»Das muss ein einträgliches Gut sein«, meinte einer, »ich kenne den Pächter, aber ich war nie dort. Es ist weit von hier, wenigstens vier starke Meilen.«
»Hol’ mich Gott«, sagte ein anderer, »ich habe die Ochsen von Blanchemont erst voriges Jahr auf dem Jahrmarkt zu Berthenour gesehen und Herrn Bricolin, den Pächter, gesprochen, wie ich jetzt mit euch spreche. O gewiss, ja, ja, ich kenne Blanchemont, aber ich weiß nicht, nach welcher Richtung zu es liegt.«
Die Magd wusste, wie alle Wirtsmägde, nichts von der Umgegend und war, gleich ihren Mitdienstboten, erst seit kurzem hier im Dienste. Die Kammerfrau und der Diener, sonst gewohnt, ihrer Gebieterin nur an Aufenthaltsorte zu folgen, welche in zivilisierteren Gegenden lagen und mehr als zwanzig Meilen im Umkreis bekannt waren begannen zu glauben, sie befänden sich tief in der Wüste Sahara. Ihre Gesichter verlängerten sich bedeutend, und ihre Eigenliebe fühlte sich grausam verletzt, dass sie umsonst der Lage eines Schlosses nachgefragt, welches sie mit ihrer Gegenwart beehren wollten.
»Das ist demnach eine Baracke, eine Höhle!« sagte Susette mit verächtlicher Miene zu Lapierre.
»Das ist das Schloss der Korybanten«, versetzte Lapierre, welcher in seiner Jugend ein Melodrama von großem Erfolg, betitelt: ›das Schloss von Corisande‹, gesehen hatte und seither diesen Namen mit obiger Verdrehung auf alle Ruinen anwandte.
Endlich hatte der Stallknecht eine Erleuchtung.
»Ich habe da droben auf dem Heuboden einen«, sagte er, »welcher euch wohl Auskunft erteilen kann, denn es ist sein Beruf, Tag und Nacht im Lande umherzulaufen. Er ist der große Louis, auch der große Mehlhändler genannt.«
»Geh’ zu dem großen Mehlhändler«, befahl Lapierre mit majestätischer Miene. »Es scheint, diese Leiter da führt zu seinem Schlafgemach.«
Der große Mehlhändler stieg, sich streckend und seine gewaltigen Arme und Beine knacken lassend, von seinem Dachkämmerchen herab und beim Anblick seiner athletischen Gestalt und seines ausdrucksvollen Gesichtes ließ Lapierre die Miene und den Ton eines vornehmen Herrn, welche er angenommen, fahren und befragte ihn höflich. Der Mehlhändler war wirklich sehr gut unterrichtet, allein bei den Nachweisungen, die er gab, hielt es Susette für nötig, ihn zu Frau von Blanchemont zu führen, welche in dem großen Wirtszimmer mit dem kleinen Eduard Schokolade trank und, weit entfernt, die Bestürzung ihrer Leute zu teilen, vielmehr heiter gestimmt wurde, als diese ihr sagten, Blanchemont sei verloren und nicht wiederzufinden.
Das Muster des Menschenschlags der Gegend, welches sich in diesem Augenblick Marcelle vorstellte, maß fünf Fuß und acht Zoll, eine bemerkenswerte Größe in einem Lande, dessen Bewohner im Allgemeinen mehr klein, als groß sind. Seine Stärke war seiner Größe angemessen, er war wohlgestaltet, ungezwungen, seine Gesichtsbildung nicht gewöhnlich. Die Mädchen seiner Heimat nannten ihn den schönen Mehlhändler und es war dieses Epitheton gewiss so wohlverdient, als nur irgendeines. Wenn er sich mit der Rückseite seines Ärmels das Mehl von den Wangen strich, welches dieselben gewöhnlich bedeckte, enthüllte er gebräunte, regelmäßige Züge von schönster Färbung. Seine Augen waren schwarz und schön gespalten, seine Zähne glänzend, seine langen kastanienbraunen Haare zeigten jene Krausheit, welche starken Menschen eigentümlich ist, und rahmten eine breite, hochgewölbte Stirne ein, welche aber mehr Schlauheit und gesunden Menschenverstand, als dichterische Idealität verriet. Er hatte eine dunkelblaue Bluse und graulinnene Beinkleider an, keine Strümpfe, dickbesohlte, nägelbeschlagene Schuhe und führte einen Stock von Vogelbeerbaumholz, welchem ein Knoten am unteren Ende das Ansehen einer Keule gab. Er trat mit einer Sicherheit ein, welche man für Frechheit hätte halten können, wenn nicht der sanfte Glanz seiner Augen und das Lächeln seines großen, roten Mundes bezeugt hätten, dass Offenheit, Güte und eine Art philosophischer Sorglosigkeit die Grundzüge seines Charakters ausmachten.
»Gott grüße Sie, gnädige Frau!« sagte er, seinen breitkrempigen Hut von grauem Filz lüftend, ohne denselben ganz abzunehmen; denn wie der alte Bauer gewohnt und willig ist, jeden, der besser als er gekleidet ist, zu grüßen, ebenso zeichnet sich der nach der Revolution geborene Bauer durch seine Neigung aus, seine Kopfbedeckung an ihrem Ort zu lassen.
»Man hat mir gesagt, Sie wünschten mich nach dem Weg nach Blanchemont zu fragen?«
Die starke und sonore Stimme des großen Mehlhändlers machte Marcelle, welche seinen Eintritt nicht wahrgenommen, erschrecken. Sie kehrte sich hastig gegen ihn, anfänglich über seine Erscheinung etwas erstaunt. Aber dem Privilegium der Schönheit gemäß vergaßen der junge Müller und die junge Dame, indem sie sich gegenseitig betrachteten, jenes Misstrauen, welches der Unterschied des Standes anfangs immer einflößt. Nur glaubte Marcelle, als sie ihn zur Vertraulichkeit gestimmt sah, ihn mit großer Feinheit an die Rücksichten, welche man ihrem Geschlecht schuldig ist, erinnern zu müssen.
»Ich danke Ihnen verbindlich für Ihre Gefälligkeit«, erwiderte sie, ihn grüßend, »und bitte Sie, mein Herr, mir gütigst zu sagen, ob ein für Wagen praktikabler Weg von hier nach dem Gut Blanchemont führe.«
Der große Mehlhändler hatte, ohne dazu aufgefordert zu werden, bereits einen Stuhl genommen, um sich zu setzen; als er sich aber ›mein Herr‹ nennen hörte, begriff er mit dem seltenen Scharfsinn, der ihm eigen war, dass er eine wohlwollende und für ihn achtungswerte Person vor sich habe. Er nahm, ohne aus der Fassung zu kommen, seinen Hut vom Kopf und stützte seine Hände auf die Lehne des Stuhls, wie um sich eine festere Haltung zu geben.
»Es gibt einen Vizinalweg, der freilich nicht sehr angenehm ist, auf welchem man aber nicht umwirft, wenn man achtsam ist«, meinte er. »Das Beste wird sein, ihm zu folgen und keinen andern einzuschlagen. Ich werde Ihrem Postillion die nötige Unterweisung geben. Doch das Sicherste wäre, eine Patache1 zu nehmen, denn die Gewitterregen von neulich haben das schwarze Tal mehr, als recht ist, mitgenommen, und ich möchte nicht versprechen, dass die kleinen Räder Ihres Wagens die Geleise dort bewältigen werden. Es könnte zwar sein, aber ich stehe nicht gut dafür.«
»Ich sehe, dass mit Euren Fahrgeleisen nicht zu spaßen ist und dass es klüger sein wird, Ihrem Rate zu folgen. Sie sind gewiss, dass man mit einer Patache nicht Gefahr läuft, umgeworfen zu werden?«
»O, seien Sie ohne Furcht, gnädige Frau!«
»Für mich selber habe ich keine Furcht, wohl aber für dieses Kind. Nur seinetwegen bin ich besorgt.«
»Es wäre in der Tat schade, wenn der Kleine da zerquetscht würde«, sagte der große Mehlhändler, indem er sich dem kleinen Eduard mit einer Miene aufrichtigen Wohlwollens näherte. »Wie hübsch und edel er aussieht, der kleine Mann!«
»Er ist sehr zart, nicht wahr?« fragte Marcelle lächelnd.
»Ei, potztausend, er ist nicht stark, aber nett, wie ein Mädchen. Sie wollen also in unser Land kommen, Herrchen?«
»Schau’ mal den Riesen da!« rief Eduard aus, indem er sich an den Mehlhändler hängte, welcher sich über ihn gebeugt hatte. »Lass’ mich doch die Decke anrühren!«
Der Müller nahm das Kind und es über seinen Kopf erhebend, ging er mit ihm unter den verräucherten Balken der Saaldecke auf und ab.
»Haben Sie Acht!« sagte Frau von Blanchemont, ein wenig erschrocken über die ungezwungene Weise, womit der ländliche Herkules ihr Kind handhabte.
»O, seien Sie ruhig«, versetzte der große Louis, »ich wollte lieber alle Alochons meiner Mühle zerbrechen, als nur einen Finger dieses Herrn.«
Das Wort Alochons ergötzte das Kind sehr, welches dasselbe wiederholte, ohne es zu verstehen.
»Sie kennen das nicht?« sagte der Müller; »nun das sind die kleinen Flügel, die Holzschaufeln, welche am Ende der Radspeichen angebracht sind und die das Wasser fasst, um das Rad zu treiben. Ich werde Ihnen das zeigen, wenn Sie einmal zu uns kommen.«
»Ja, ja, Alochon!« versetzte das Kind, laut lachend und sich in den Armen des Müllers schaukelnd.
»Ist er ein Spaßvogel, der kleine Schlingel?« sagte der große Louis, indem er