Und über alle waltet ein Kaiser. Unnahbar, geheimnisvoll, allmächtig, beinahe wie ein Gott. Gebietet den Prinzen und Baronen seines Reiches, wie nirgendwo ein Kaiser seinen Bauern befehlen kann. Herrscht über Hab und Gut, über Freiheit und Gefangenschaft, über Leben und Tod, und darf keiner aufstehen im ganzen Land, dem das Licht der Sonne lieb ist, und fragen: Warum? Warum, du Kaiser, hast du diesen getötet, und jenen erhöht? Warum baden deine Schergen in unserem Blut? In die fernsten Gegenden des Erdballs reicht der Wille dieses einen Mannes, und das Wort dieses einen wird gehört, wird belauscht und geachtet im chinesischen Kaiserpalast, in der Hofburg zu Wien, im Elysee und im Berliner Hohenzollernschloss, und ein Dutzend kleiner Souveräne, mitten unter ihnen den Grossherrn der Türkei, hält er mit ihrer Throne Schicksal in der hohlen Hand. Ein einzelner junger Mann, nett und bürgerlich von Ansehen, nett und bürgerlich vielleicht auch von Geist – und sein Ja oder Nein, seine Laune oder sein Impuls vermag es, das Antlitz dieser Welt zu verändern. Die übrigen Könige Europas mögen ihn beneiden um sein aufrechtes Königtum, um sein ungebrochenes Herrenrecht. Was der Zeiten Lauf ihrer angestammten Herrlichkeit abgezwungen, was sie unter den ehernen Griffen neuer Erkenntnisse verloren, das mögen sie am Zaren messen. Und wie unwiederbringlich vergangener Jahrhunderte Denkmal mag ihnen die absolute Zarenherrlichkeit erscheinen, ein Monument ihrer einstigen königlichen Unumschränktheit, die lebendige Erinnerung an jene goldenen Tage, da es noch freie Könige gegeben.
Ein schüchtern lächelnder, blasser junger Mensch, ohne Tyrannengebärde, ohne grossartige Gebietergesten. Er braucht ja den Arm nicht stolz zu erheben, wo ein Wink mit dem kleinen Finger genügt, um Millionen in Bewegung zu setzen. Dieses aber war das Leben seiner Vorfahren: dass sie Trunk und Speise ihren Lakaien und Hunden zum Vorkosten reichten, um, wenn jene in Krämpfen verröchelten, aufzuatmen, weil sie für heute Mittag dem Gift entronnen; dass sie zur festlichen Tafel schreiten wollten, und im selben Moment der Saal donnernd einstürzte, so knapp vor ihrem Eintritt, dass vor ihren Augen der Bediente, der die Türflügel aufschlug, in Stücke gerissen ward; dass die Schienen, darauf ihr Zug dahinsauste, unterminiert, explodierten, und sie in ihres Reiches Mitte auf freiem Felde verweilen mussten, umgeben von Leichen und Sterbenden, und dankbar noch, weil das Unheil jene traf, die Diener, die noch eben frisch und lebendig um des Zaren Person treu und beflissen sich mühten; dass sie, gehetzt und verängstigt, alle Bewegungen ihrer Nächsten furchtsam belauern, einmal den Adjutanten, weil er zu eilig in das Zimmer trat und mit der Hand in die Tasche nach einem Aktenstück fuhr, über den Haufen schossen, ein andermal einen jungen Offizier niederknallten, weil er auf der Treppe zu rasch nach der Mütze fuhr, den Kaiser zu grüssen, und weil der Kaiser in seinem beständigen Entsetzen meinte, der Mörder wolle zum Schlag ausholen. Das war Alexander, der Vater des Nikolaus. Der Grossvater verblutete, den Leib von Bomben zerfetzt, auf dem Strassenpflaster.
Was der Erbe dieses Reiches und dieses Daseins im Herzen denkt, erscheint als lockendes Rätsel. Man wird nicht müde, seine Worte, seine Taten zu durchforschen, ob irgendwo seines Wesens Spur sich finden lässt, ob er in seinen Absichten und Plänen zu erraten wäre, dass man ihm abmerken könne, ob er ein wissender Zar ist in Russland und ein fühlender. Er hat, als er im Kreml zu Moskau sich krönte, einmal von seiner Sehnsucht nach Frieden laut geredet, und er hat seither den blutigsten Krieg, den die Geschichte kennt, dilettantisch und hilflos geführt. Wie es in Russland gewesen, so ist es geblieben. Nichts hat sich geändert unter ihm, und während er in den steirischen Bergen Gemsen schiesst oder in den Wäldern bei Darmstadt auf die Pürsch geht, werden in seinem Reiche Menschen gejagt. Aber man erzählt, dass oftmals eine tiefe Traurigkeit das Gemüt des jungen Zaren umnachtet, dass er Tränen vergiesst auf seinem hochragenden Thron, dass er manchmal von allen Menschen sich absperrt, wenn die erschütterten Nerven den Dienst verweigern; und dass er melancholisch seine Tage verbringt, dass er selten nur lacht, erzählt man.
Wir sehen ihn in dem gleichen Gehege dahinleben, das seine Väter umgab. Eingeschlossen in einem Kerker, der mit ihm wandelt, wohin er seine Schritte auch lenken mag. Sehen ihn begleitet und gehütet von lebendigen Mauern durch die Welt ziehen, überall den Schrecken vor dem Schrecken mit sich tragend. Wenn seine Augen blinzeln, so ist es, weil jede Bewegung, die er wahrnimmt, für ihn zwei Bilder hat, das wirkliche, harmlose, und das innere, sofort in seiner beständig wachen Phantasie entstehende, gefährliche. Darum blinzelt er, als wolle ihm was ins Gesicht fahren. Und jedes Geräusch hat zwei Stimmen für ihn, die wirkliche und jene andere furchtbare, die er bei sich selbst vernimmt. Was seine schmalen Wangen bleicht, ist Stubenblässe nicht, ist das Bewusstsein: dass nur ein Stein dieser Ringmauer sich lockern, nur einer dieser vieltausend Wächter treulos zu sein braucht, dass in der ehernen, mit Bajonettspitzen und Kosakenlanzen bewehrten Hecke nur einmal, unversehens, ein kleiner Spalt entstehen könnte, und sofort schlüpfte jene Mörderfaust herein, die unheimlich und gespenstisch immer an dieser schirmenden Wand tastet und tastet. Ein schlanker, schüchtern lächelnder junger Mann, und trägt die stolzeste Krone. Aber er trägt sie geduckten Hauptes, wie man vor einem Streich das Haupt duckt. Indessen hofft die Welt auf den jungen Zaren, weil sie ja seit mehr als einem Jahrhundert gewohnt ist, immer und immer wieder auf den jungen Zaren zu hoffen.
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