Eines Tages suchte mich mein Lehrer in der Marmorgrotte auf, in welche ich mich während der großen Hitze des Tages zurückzog. Sein Gesicht war zugleich streng und lächelnd; er hielt ein Fläschchen in der Hand.
‚Acharat,’ sprach er zu mir, ‚ich habe Dir immer gesagt, nichts werde geboren, nichts sterbe in der Welt; die Wiege und der Sarg seien Brüder; es fehle dem Menschen, um klar in seine vergangenen Existenzen zu sehen, nur die Hellsichtigkeit, die ihn Gott gleich machen werde, denn von dem Tage, wo er diese Hellsichtigkeit erlangt habe, werde er sich unsterblich wie Gott fühlen. Nun, ich habe einstweilen den Trank gefunden, der die Finsterniß zerstreut, bis ich denjenigen finde, welcher den Tod verjagt. Acharat, ich habe gestern getrunken, was in diesem Fläschchen fehlt.’
Ich hegte ein großes Vertrauen, eine tiefe Verehrung für meinen würdigen Lehrer, und dennoch zitterte meine Hand, als sie das Fläschchen berührte, das mir Althotas reichte, wie die Hand von Adam gezittert haben muß, da er den Apfel berührte, den ihm Eva bot.
‚Trinke,’ sagte er lächelnd zu mir.
Ich trank.
Dann legte er mir die Hände auf den Kopf, wie er dies zu thun pflegte, wenn er mich für den Augenblick mit dem zweiten Gesichte begaben wollte.
‚Schlafe und erinnere Dich,’ sprach er zu mir.
Ich entschlummerte sogleich. Dann träumte mir, ich liege auf einem Scheiterhaufen von Sandelholz und Aloen; ein Engel, der, den Willen des Herrn von Osten nach dem Westen tragend, vorüber kam, berührte meinen Scheiterhaufen mit dem Ende des Flügels und er fing Feuer. Aber statt von der Angst erfaßt zu werden, statt diese Flamme zu fürchten, streckte ich mich wollüstig inmitten der glühenden Zungen aus, wie es der Phönix thut, der ein neues Leben in dem Principe alles Lebens geschöpft hat.
Dann verschwand Alles, was Materielles in mir war, die Seele allein blieb; sie behielt die Form des Körpers, aber durchsichtig, ungreifbar, leichter, als die Atmosphäre, in der wir leben und über die sie sich erhob. Wie Pythagoras, der sich bei der Belagerung von Troja gewesen zu sein erinnerte, erinnerte ich mich sodann der zwei und dreißig Existenzen, die ich durchlebt hatte. Ich sah unter meinen Augen die Jahrhunderte wie eine Reihe großer Greise vorübergehen. Ich erkannte mich unter den verschiedenen Namen, die ich seit dem Tage meiner ersten Geburt bis zu meinem letzten Tode geführt hatte, denn Ihr wißt, meine Brüder, und das ist einer der positivsten Punkte unseres Glaubens, die Seelen, diese zahllosen Ausströmungen der Gottheit, welche bei jedem Hauche aus der Brust Gottes hervorkommen, erfüllen die Luft, vertheilen sich in einer großen Hierarchie, von den erhabensten bis zu den geringsten Seelen, und der Mensch, der zur Stunde seiner Geburt, vielleicht auf den Zufall, eine von den zuvor bestehenden Seelen einathmet, gibt sie zur Stunde seines Todes einer neuen Laufbahn und nachfolgenden Umwandlungen zurück.«
Derjenige, welcher sprach, sprach mit so überzeugtem Tone, schlug seine Augen mit einem so erhabenen Blicke zum Himmel auf, daß ihn bei dieser Periode seines Geistes, welche seinen ganzen Glauben zusammenfaßte, ein Gemurmel der Bewunderung unterbrach; das Erstaunen machte der Bewunderung Platz, wie der Zorn dem Erstaunen Platz gemacht hatte.
»Als ich erwachte,« fuhr der Erleuchtete fort, »fühlte ich, daß ich mehr als ein Mensch, begriff ich, daß ich beinahe ein Gott war.
Da beschloß ich, nicht nur mein gegenwärtiges Dasein, sondern auch alle Existenzen, die ich fernerhin zu leben habe, dem Glücke der Menschheit zu weihen.
Am andern Tage, als hätte er mein Vorhaben errathen, kam Althotas zu mir und sprach:
‚Mein Sohn, es sind zwanzig Jahre, als Eure Mutter, indem sie Euch das Leben gab, verschied; seit zwanzig Jahren hält ein unüberwindliches Hinderniß Euren erhabenen Vater ab, sich Euch zu offenbaren; wir werden unsere Reisen wieder fortsetzen; Euer Vater wird unter denjenigen sein, welche uns begegnen, er wird Euch umarmen, doch Ihr werdet nicht wissen, daß er Euch umarmt hat.’
Es sollte also Alles bei mir, wie bei den Auserwählten des Herrn geheimnißvoll sein: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
Ich sagte dem Mufti Salaaym Lebewohl, er segnete mich und überhäufte mich mit Geschenken; dann schlossen wir uns einer Karavane an, welche nach Suez abging.
Verzeiht, edle Herren, wenn ich bei dieser Erinnerung erschüttert bin; eines Tages umarmte mich ein ehrwürdiger Mann und ein seltsamer Schauer bewegte mein ganzes Wesen, als ich sein Herz schlagen fühlte.
Es war der Scherif von Mekka, ein sehr glänzender, sehr erhabener Fürst. Er hatte hundert Schlachten gesehen und mit einer Geberde seines Armes beugte er die Köpfe von drei Millionen Menschen. Althotas wandte sich ab, um nicht unruhig zu werden, vielleicht um sich nicht zu verrathen, und wir setzten unsern Weg fort.
Wir drangen in Asien vor; wir fuhren den Tigris hinauf; wir besuchten Palmyra, Damask, Smyrna, Konstantinopel, Wien, Berlin, Dresden, Stockholm, Moskau, Petersburg, New-York, Buenos-Ayres, das Cap, Aden; als wir uns endlich wieder beinahe auf dem Punkte fanden, von dem wir ausgegangen waren, begaben wir uns nach Abyssinien, fuhren den Nil hinab, landeten später in Rhodus und dann in Malta; ein Schiff kam dem unsrigen auf zwanzig Stunden in die See entgegen; zwei Ritter des Ordens führten uns, nachdem sie mich begrüßt und Althotas umarmt hatten, im Triumph in den Palast des Hochmeisters Pinto.
Ohne Zweifel, meine edle Herren, werdet Ihr mich fragen, warum der Muselmann Acharat mit so großer Ehre von denjenigen aufgenommen worden sei, welche in ihrem Gelübde die Vertilgung der Ungläubigen schwören. Althotas, ein Katholik und selbst Malteserritter, hatte mir immer nur von einem mächtigen, universellen Gott gesprochen, der mit Hülfe der Engel, seiner Diener, die allgemeine Harmonie gegründet und diesem harmoniösen Ganzen den schönen, großen Namen Kosmos gegeben. Kurz ich war Theosoph.
Meine Reisen waren vollendet; aber der Anblick aller dieser Städte mit den verschiedenen Namen, mit den widersprechenden Sitten, hatte kein Erstaunen bei mir erregt; das kam davon her, daß nichts unter der Sonne für mich neu war, daß ich im Verlaufe der zwei und dreißig Existenzen, die ich bereits gelebt, dieselben Städte besucht hatte, daß das Einzige, was mir etwa auffiel, die Veränderungen waren, die sich unter den Menschen, welche dieselben bevölkerten, bewerkstelligt hatten. Ich konnte dann im Geist über die Ereignisse hinschweben und den Gang der Menschheit verfolgen. Ich sah, daß alle Geister auf den Fortschritt abzielten und daß der Fortschritt zur Freiheit führte. Ich sah, daß alle nach und nach zum Vorschein gekommene Propheten vom Herrn erweckt worden waren, um den schwankenden Gang der Menschheit zu stützen, welche, blind von ihrer Wiege ausgegangen, jedes Jahrhundert einen Schritt gegen das Licht macht: die Jahrhunderte sind die Tage der Völker.
Ich sagte mir nun, so viele erhabene Dinge seien mir nicht geoffenbart worden, damit ich sie in mir begrabe, vergebens verschließe der Berg seine Goldadern, vergebens verberge der Ocean seine Perlen; denn der beharrliche Gräber dringe in den Grund des Gebirges, denn der Taucher steige in die Tiefe des Meeres hinab; und statt es zu machen wie der Ocean und der Berg, wäre es besser, zu thun, wie die Sonne thut, und meine Herrlichkeiten auf die Welt auszustreuen..
Nicht wahr, Ihr begreift nun, daß ich nicht, um einfachen Maurergebräuchen zu entsprechen, vom Orient gekommen bin. Ich bin gekommen, um Euch zu sagen: Brüder, entlehnt die Flügel und die Augen vom Adler, erhebt Euch über die Welt, erreicht mit mir den Gipfel des Berges, wohin Satan Jesus führte, und werft die Augen auf die Königreiche der Erde.
Die Völker bilden eine ungeheure Phalanx; in verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Lagen geboren, haben sie ihre Stufen eingenommen und müssen jedes der Reihe nach zu dem Ziele gelangen, für welches sie geschaffen sind. Sie marschiren unablässig, obgleich sie zu ruhen scheinen, und wenn sie zufällig zurückweichen, so gehen sie nicht zurück, sondern sie nehmen einen Ansatz, um ein Hinderniß zu überspringen, oder um eine Schwierigkeit zu brechen.«
Frankreich ist in der Vorhut der Nationen, geben wir ihm eine Fackel in die Hand, die Flamme, die sie verzehrt, wird ein nützlicher Brand werden, weil sie die Welt erleuchtet.
»Deshalb fehlt der Vertreter von Frankreich hier; vielleicht wäre er vor seiner Sendung zurückgewichen. Es bedarf eines Mannes, der vor nichts zurückweicht . . . ich werde nach Frankreich gehen.«
»Ihr