»Zum Sterben.«
»Sie haben vielleicht Ehrgeiz?«
»Nein.«
»Sie lieben Ihren Vater?«
»Ja,« sprach das Mädchen mit einem gewissen Zögern.
»Gestern Abend kam es mir jedoch vor, als läge eine Wolke über dieser kindlichen Liebe?« versetzte Balsamo lächelnd.
»Ich grolle ihm, daß er auf eine tolle Weise das ganze Vermögen meiner Mutter verschwendet hat, so daß der arme Maison-Rouge in der Garnison verschmachtet und den Namen unserer Familie nicht mehr würdig führen kann.«
»Wer ist Maison-Rouge?«
»Mein Bruder Philipp.«
»Warum nennen Sie ihn Maison-Rouge?«
»Weil dies der Name eines uns gehörigen Schlosses ist, oder vielmehr war, und die Aeltesten der Familie diesen Namen bis zum Tode ihres Vaters führten; dann heißen sie Taverney.«
»Und Sie lieben Ihren Bruder?«
»Oh ja! sehr! sehr!«
»Mehr als Alles?«
»Mehr als Alles.«
»Und warum lieben Sie ihn so leidenschaftlich, während Sie Ihren Vater nur mäßig lieben?«
»Weil er ein edles Herz ist, weil er sein Leben für mich geben würde.«
»Während Ihr Vater?« . . .
Andrée schwieg.
»Sie antworten nicht?«
»Ich will nicht antworten.«
Ohne Zweifel hielt es Balsamo nicht für geeignet, den Willen des Mädchens zu zwingen. Vielleicht wußte er auch schon über den Baron Alles, was er wissen wollte.
»Und wo ist in diesem Augenblick der Chevalier von Maison-Rouge?«
»Sie fragen mich, wo Philipp sei?«
»Ja.«
»Er ist in Garnison in Straßburg.«
»Sehen Sie ihn in diesem Augenblick?«
»Wo dies?«
»In Straßburg.«
»Ich sehe ihn nicht.
»Kennen Sie die Stadt?«
»Nein.«
»Ich kenne sie; suchen wir mit einander, wollen Sie?«
»Gewiß will ich.«
»Ist er im Schauspiel?«
»Nein.«
»Ist er im Café de la Place, mit den andern Officieren?«
»Nein.«
»Ist er in sein Zimmer zurückgekehrt? Sie sollen das Zimmer Ihres Bruders sehen.«
»Ich sehe nichts. Ich glaube, er ist nicht mehr in Straßburg.«
»Kennen Sie den Weg?«
»Nein.«
»Gleichviel! ich kenne ihn; verfolgen wir denselben. Ist er in Saverne?«
»Nein.«
»Ist er in Saarbrück?«
»Nein.«
»Ist er in Nancy?«
»Warten Sie, warten Sie!«
Andrée sammelte sich; ihr Herz schlug, daß die Brust hätte zerspringen sollen.
»Ich sehe! ich sehe!« sprach sie mit einem freudigen Ausbruche; »oh! lieber Philipp, welch’ ein Glück!«
»Was gibt es denn?«
»Lieber Philipp!« fuhr Andrée fort, deren Augen vor Freude funkelten.
»Wo ist er?«
»Er reitet durch eine Stadt, die ich vollkommen kenne.«
»Durch welche Stadt?«
»Nancy! Nancy! wo ich im Kloster war.«
»Sind Sie sicher, daß er es ist?«
»Oh! ja, die Fackeln, die ihn umgeben, beleuchten sein Antlitz.«
»Fackeln?« sprach Balsamo erstaunt. »Warum Fackeln?«
»Er reitet am Schlage einer schönen vergoldeten Carrosse.«
»Ah! ah!« machte Balsamo, der zu begreifen schien; »und was ist in dieser Carrosse?«
»Eine junge Frau. Oh! wie majestätisch, wie anmuthreich, wie schön sie ist! Oh! das ist seltsam, es kommt mir vor, als hätte ich sie bereits gesehen; nein, nein, ich täuschte mich, Nicole gleicht ihr.«
»Nicole gleicht dieser so schönen, so majestätischen, so stolzen jungen Frau?«
»Ja! ja! wie der Jasmin der Lilie gleicht.«
»Sprechen Sie, was geht in diesem Augenblick in Nancy vor?«
»Die junge Frau neigt sich aus dem Kutschenschlage und bedeutet Philipp durch ein Zeichen, er möge sich ihr nähern; er gehorcht, er reitet heran, er entblößt sich ehrfurchtsvoll.«
»Können Sie hören, was sie sprechen?«
»Ich werde horchen,« erwiederte Andrée, Balsamo mit einer Geberde zurückhaltend, als sollte kein Geräusch ihre Aufmerksamkeit ablenken. »Ich höre! ich höre!« murmelte sie.
»Was sagt die junge Frau?«
»Sie befiehlt ihm mit einem sanften Lächeln, den Gang der Pferde zu beschleunigen. Sie sagt ihm, die Escorte müsse am andern Morgen um sechs Uhr bereit sein, weil sie im Verlaufe des Tages anhalten wolle.«
»Wo dies?«
»Das fragt sie mein Bruder. Oh! mein Gott! in Taverney will sie anhalten. Oh! eine so vornehme Prinzessin will in einem so armseligen Hause anhalten . . . Wie werden wir es machen, ohne Silbergeschirr, beinahe ohne alles Leinengeräthe?«
»Beruhigen Sie sich. Wir werden hiefür sorgen.«
»Ah! ich danke! ich danke!«
Und das Mädchen, das sich halb erhoben hatte, fiel erschöpft auf seinen Lehnstuhl zurück und stieß einen tiefen Seufzer aus.
Sogleich näherte sich Balsamo Andrée, veränderte durch magnetische Gänge die Richtung der electrischen Strömungen und verlieh die Ruhe des Schlafes diesem schönen Körper, der sich gebrochen neigte, diesem beschwerten Kopfe, der auf die keuchende Brust herabfiel.
Andrée schien sodann in eine völlige wiederherstellende Ruhe zurückzukehren.
»Sammle Deine Kräfte wieder,« sprach Balsamo, indem er sie mit einer düstern Extase anschaute; »sogleich würde ich Deiner Hellsichtigkeit abermals bedürfen. O Wissenschaft!« fuhr er mit dem Charakter der überzeugtesten Begeisterung fort, »du allein täuschest nicht! dir allein muß der Mensch Alles opfern. Diese Frau ist sehr schön, mein Gott, dieser Engel ist sehr rein! Doch welchen Werth hat in diesem Augenblick die Schönheit für mich? welchen Werth hat die Unschuld? den Werth einer einfachen Auskunft, die nur die Schönheit und die Unschuld allein mir geben können. Es sterbe das Geschöpf, so schön, so rein, so vollkommen es auch sein mag. Es sterben die Genüsse der ganzen Welt, Liebe, Leidenschaft, Extase, wenn ich nur immer mit sicherem, erleuchtetem Schritte gehen kann! Und nun, Mädchen, da Dir durch die Macht meines Willens einige Sekunden Schlummer so viel Kräfte gegeben haben, als wenn Du zwanzig Jahre geschlafen hättest, nun erwache, oder versenke Dich vielmehr wieder in Deinen hellsichtigen Schlummer. Ich bedarf noch Deiner Sprache: nur wirst Du diesmal für mich sprechen.«
Und abermals die Hände gegen Andrée ausstreckend, nöthigte Balsamo diese, sich unter einem allmächtigen Hauche zu erheben.
Als er sie bereit und unterwürfig sah, zog er ein viereckig zusammengelegtes Papier, in welchem eine schwarze Haarlocke enthalten war, aus seinem Portefeuille hervor. Die Wohlgerüche, mit denen die Locke geschwängert, hatten das Papier durchsichtig gemacht.
Balsamo