Ohne im Geringsten auf das Klagegeschrei des Meisters Bonacieux zu hören, ein Geschrei, woran sie übrigens gewöhnt sein mußten, nahmen die zwei Wachen den Gefangenen beim Arm und führten ihn weg, während der Commissär in Eile einen Brief schrieb, auf den der Gerichtschreiber wartete.
Bonacieux schloß kein Auge; nicht als ob sein Kerker zu abscheulich gewesen wäre, sondern weil seine Unruhe zu groß war. Er blieb die ganze Nacht auf seiner Bank, er zitterte bei dem geringsten Geräusche, und als die ersten Strahlen des Tages in seine Kammer drangen, kam es ihm vor, als hätte das Morgenroth eine Leichenfärbung angenommen.
Plötzlich hörte er die Riegel klirren und sprang erschrocken auf. Der Unglückliche glaubte, man komme, um ihn zu holen und nach dem Schaffot zu führen. Aber als er statt des erwarteten Henkers seinen Commissär und seinen Gerichtsschreiber vom vorigen Tage erscheinen sah, war er sehr geneigt, ihnen um den Hals zu fallen.
»Eure Angelegenheit hat sich seit gestern Abend sehr verwirrt, mein braver Mann,« sagte der Kommissär, »und ich rathe Euch, die Wahrheit unumwunden zu gestehen, denn nur Eure Reue vermag den Zorn des Cardinals zu beschwören.«
»Ich bin bereit. Alles zu sagen,« rief Bonacieux, »wenigstens Alles, was ich weiß. Fragt, ich bitte Euch.«
»Vor Allem: wo ist Eure Frau?«
»Ich sagte Euch doch, man habe sie mir entführt.«
»Ja, aber seit gestern Mittag um fünf Uhr ist sie durch Eure Hilfe entflohen.«
»Meine Frau ist entflohen?« rief Bonacieux. »Oh, die Unglückliche! Mein Herr, wenn sie entflohen ist, so bin ich nicht Schuld, ich schwöre es Euch.«
»Was hattet Ihr dann bei Herrn d'Artagnan, Eurem Nachbar zu thun, mit welchem Ihr an diesem Tag eine lange Konferenz hieltet?«
»Ach! ja, Herr Commissär, ja, das ist wahr, und ich gestehe, daß ich Unrecht hatte. Ja, ich bin bei Herrn d'Artagnan gewesen.«
»Und was war der Zweck Eures Besuches?«
»Ich wollte ihn bitten, mir meine Frau aufsuchen zu helfen. Ich glaubte mich berechtigt, sie zurückzufordern; aber ich täuschte mich, wie es scheint, und bitte um Vergebung.«
»Was antwortete Herr d'Artagnan?«
»Herr d'Artagnan hat mir seinen Beistand zugesagt; aber ich sah bald ein, daß er mich verrieth.«
»Ihr wollt der Justiz eine Lüge aufschwatzen! Herr d'Artagnan hat einen Vertrag mit Euch abgeschlossen, hat kraft dieses Vertrags die Polizei, welche Eure Frau verhafteten, in die Flucht gejagt, und alle Nachforschungen fruchtlos gemacht.«
»Herr d'Artagnan hat meine Frau entführt? Ei, ei, was sagt Ihr mir da?«
»Zum Glück ist Herr d'Artagnan in unsern Händen und Ihr sollt ihm gegenüber gestellt werden.«
»Ah! meiner Treu, das ist mir ungemein lieb;« rief Bonacieux, »es soll mir gar nicht leid thun, ein bekanntes Gesicht zu sehen.«
»Laßt Herrn d'Artagnan eintreten,« sprach der Commissär zu den zwei Wachen.
Die Wachen ließen Athos eintreten.
»Herr d'Artagnan,« sprach der Commissär, sich an Athos wendend, »erklärt, was zwischen Euch und diesem Herrn vorgefallen ist.«
»Aber Ihr zeigt mir ja gar nicht d'Artagnan,« rief Bonacieux.
»Wie, das ist nicht d'Artagnan?« sprach der Commissär.
»Keineswegs,« antwortete Bonacieux.
»Wie heißt dieser Herr?« fragte der Commissär.
»Ich kann es Euch nicht sagen, ich kenne ihn nicht.«
»Wie, Ihr kennt ihn nicht?«
»Nein!«
»Ihr habt ihn nie gesehen?«
»Doch; aber ich weiß nicht, wie er heißt.«
»Euer Name?« fragte der Commissär.
»Athos«, antwortete der Musketier.
»Das ist kein Menschenname, sondern der Name eines Berges,« rief der arme Untersuchungsrichter, der den Kopf zu verlieren anfing.
»Es ist mein Name,« sprach Athos ruhig.
»Aber Ihr sagtet doch, Ihr hießet d'Artagnan?«
»Ich?«
»Ja, Ihr!«
»Man hat zu mir gesagt: Ihr seid Herr d'Artagnan? ich erwiederte: Ihr glaubt? Meine Wachen meinten, sie wüßten es gewiß; ich wollte ihnen nicht widersprechen; überdies konnte ich mich täuschen.«
»Mein Herr, Ihr beleidigt die Majestät der Justiz!«
»Durchaus nicht,« entgegnete Athos gelassen.
»Ihr seid Herr d'Artagnan?«
»Seht, Ihr sagt es mir noch einmal.«
»Nun ich sage Euch, mein Herr Commissär,« rief Bonacieux, »daß man hier keinen Augenblick zweifeln darf. Herr d'Artagnan wohnt in meinem Hause, und ich muß ihn folglich kennen, obgleich er mir meinen Miethzins nicht bezahlt, und gerade aus diesem Grunde. Herr d'Artagnan ist ein junger Mann von kaum neunzehn bis zwanzig Jahren, und dieser Herr ist gewiß dreißig Jahre alt. Herr d'Artagnan steht bei den Garden des Herrn des Essarts, und dieser Herr bei der Musketiercompagnie des Herrn von Treville. Schaut die Uniform an, mein Herr Commissär, schaut die Uniform an.«
»Es ist wahr,« murmelte der Commissär, »es ist bei Gott wahr!«
In diesem Augenblicke wurde die Thüre rasch geöffnet, und ein von einem Gefangenenwärter der Bastille eingeführter Bote übergab dem Commissär einen Brief.
»Oh! die Unglückliche!« rief der Commissär.
»Wie? was sagt Ihr? von wem sprecht Ihr? Hoffentlich nicht von meiner Frau?«
»Im Gegentheil gerade von ihr. Eure Angelegenheit steht ganz schön!«
»Ah,« rief der Krämer in Verzweiflung, »macht mir das Vergnügen und sagt mir, wie sich meine Angelegenheit durch das verschlimmern kann, was meine Frau thut, während ich im Gefängniß sitze.«
»Weil das, was sie thut, die Folge eines unter Euch abgekarteten höllischen Planes ist.«
»Ich schwöre Euch, Herr Commissär, daß Ihr in einem gewaltigen Irrthume befangen seid; daß ich nicht das Mindeste von dem weiß, was meine Frau thun sollte; daß ich dem, was sie gesagt hat, völlig fremd bin, und daß ich sie, wenn sie Dummheiten begangen hat, verleugne, verfluche.«
»Ei,« sprach Athos zu dem Commissär, »wenn Ihr mich hier nicht braucht, so schickt mich irgendwo hin. Er ist sehr langweilig, dieser Herr Bonacieux.«
»Führt die Gefangenen in ihre Kerker zurück,« sprach der Commissär, mit derselben Geberde Athos und Bonacieux bezeichnend, »und man soll sie mit der größten Strenge bewachen!«
»Wenn Ihr indessen mit Herrn d'Artagnan zu thun habt,« sagte Athos mit seiner gewöhnlichen Ruhe,« so sehe ich nicht ganz ein, warum ich seine Stelle vertreten soll.«
»Thut, was ich gesagt habe,« rief der Commissär, »und beobachtet das tiefste Stillschweigen, hört Ihr?«
Athos folgte den Wachen mit einem Achselzucken, und Herr Bonacieux mit einem Klagegeschrei, das einem Tiger hätte das Herz zerreißen mögen.
Man führte den Krämer in denselben Kerker, wo er die Nacht zugebracht hatte, und ließ ihn hier den ganzen Tag. Den ganzen Tag weinte Herr Bonacieux, wie ein wahrer Krämer, denn er war durchaus kein Mann vom Schwerte, wie er uns selbst gesagt hat.
Abends