Der Taschendieb, der den Chevalier so ungestraft seinen Träumen entrissen hatte, gehörte zu der großen Race langhaariger Jagdhund, welche zugleich mit den von Jacob I. an seinen Vetter Carl VII. gesandten Hilfstruppen aus Schottland nach Frankreich herübergekommen ist. Er war schwarz, reinlich der Jagdhund, mit einem weißen Streifen auf der Brust; er hatte einen langen fahnenartigen Schweif, weiches, glänzendes Haar, schöne, lang herabhängende Ohren, und kluge, fast menschliche Augen.
Kurz, es war für Jedermann ein herrliches Tier. Das wirklich bewundert zu werden verdiente: aber der Chevalier de la Graverie, der eine große Gleichartigkeit gegen alle Tiere, insbesondere gegen Hunde, zur Schau trug, widmete den äußern Reizen des interessanten Taschendiebes nur sehr geringe Aufmerksamkeit.
Er sah sich enttäuscht. – In dem Augenblicke, als er eine Bewegung an seiner Rocktasche fühlte, hatte seine plötzlich aus dem Schlummer aufgerüttelte Phantasie ein ganzes Drama aufgebaut.
Es gab Spitzbuben in Chartres! Eine Bande von »pick-pocket« hatte sich in die Hauptstadt der Landschaft Beauce eingeschlichen, um den reichen Bürgern die Napoleons und Banknoten aus den Taschen zu holen. Und diese Bösewichter, durch die Klugheit und den Scharfsinn eines Spaziergängers entlarvt, ins Gefängnis geschleppt, vor die Assisen gestellt und zum Bagno verurteilt – das war in der That eine prächtige Unterhaltung, die in das einförmige Leben der Provinzstadt eine höchst pikante Abwechslung gebracht hätte! Man kann sich daher denken, wie unangenehm es war, aus diesem unverhofften Gaudium in das langweilige Alltagsleben zurückzusinken!
Der Chevalier machte also in der ersten Aufwallung des Ärgers gegen den Urheber dieser Enttäuschung einen Versuch, den Schmarotzer durch ein olympisches Stirnrunzeln zu verjagen; aber der Hund hielt unerschrocken das Feuer dieses Blickes aus und sah seinen Gegner sogar recht freundlich und zutraulich an, als ob er sagen wollte: Warum zürnen Sie mir? Haben Sie doch Mitleid mit mir!
Das Auge ist bei den Hunden wie bei den Menschen der Spiegel der Seele. Der Blick des Hundes rührte den Chevalier so tief, dass er sofort seine Stirn entrunzelte, in dieselbe Tasche griff, auf welche der Hund einen verstohlenen Angriff versucht hatte, und ein Stück Zucker herausnahm.
Der Hund nahm den Leckerbissen mit der größten Zartheit. Wer ihn sah, wie er so vorsichtig, so freundlich, so zufrieden das süße Almosen hinnahm, würde nie geglaubt haben, dass Diebesgedanken in diesem grundehrlichen Gemüte hätten aufkommen können. Ein scharfer Beobachter, ein Physiognomiker hätte vielleicht einen etwas lebhafteren Ausdruck der Dankbarkeit gewünscht, während die weißen Zähne des Tieres den Zucker zermalmten; aber die Bauchdienerei, bekanntlich eine der sieben Todsünden, gehörte zu den schwachen Seiten des Chevalier, der die Freuden der Tafel als eine Würze des geselligen Lebens betrachtete. Statt daher dem Hunde ob des mehr sinnlichen als dankbaren Ausdrucks seines Gesichts zu zürnen, betrachtete er mit aufrichtiger und fast neidischer Bewunderung die von dem eingebürgerten Schottländer gegebenen Äußerungen des Gaumenkitzels.
Der Hund gehörte offenbar zu der Klasse der unverschämten Bettler. Kaum war der Leckerbissen verschlungen, so wiederholte er seine bereits als erfolgreich erprobten Schmeicheleien, um die Wohltätigkeit des Spaziergängers wieder in Anspruch zu nehmen. Er schien zu wissen, dass er nicht vergebens bat, und wurde zudringlich wie alle Bettler! Der Chevalier ließ sich durch die feuchten bittenden Blicke und das freundliche Wedeln betören und fütterte den interessanten Schmarotzer bis die Tasche ganz leer war.
Der Chevalier konnte sich eines gewissen bitteren Gefühls nicht erwehren; er hatte in den verschiedensten Menschenrassen, vom Höfling bis zum Stallknecht, so viel Undank gesehen, dass er erwartete, ein Mitglied der Hundegenossenschaft werde das von den Adams söhnen seit Jahrtausenden gegebene Beispiel befolgen.
Diese langjährige Erfahrung hätte den Chevalier de la Graverie gleichgültig machen sollen; aber es that ihm weh, noch einmal auf seine Kosten den allgemeinen Undank zu erfahren. Er wünschte daher seinem neuen Bekannten eine peinliche Verlegenheit und sich selbst die daraus entstehenden Demütigungen zu ersparen. Er griff noch einmal in die Rocktasche und nachdem er sich überzeugt hatte, dass kein Zucker mehr darin war, nachdem er, um den Hund von seiner Ehrlichkeit zu überzeugen, die Tasche umgekehrt hatte, streichelte er den Hund, um ihn in Gnaden zu entlassen, stand auf und ging weiter ohne sich umzusehen.
II
Wo Jungfer Marianne das Programm ihres Charakters gibt
Der Chevalier war kaum einige hundert Schritte fortgegangen, so wurde sein Entschluss, sich nach dem Hunde nicht umzusehen, durch die Neugier stark erschüttert, und es bedurfte einer bedeutenden moralischen Kraft, um den Einflüsterungen des Dämons zu widerstehen.
Als, er über die Brücke in die Stadt ging, bekam die Neugier endlich die Oberhand und er benutzte den eben an» kommenden Pariser Postwagen als Vorwand, auf die Seite zu treten und sich umzusehen. Zu seinem größten Erstaunen sah er, dass ihm der Hund auf dem Fuße folgte.
»Ich habe Dir nichts mehr zu geben, armes Tier!« sagte der Chevalier, indem er seine leeren Taschen schüttelte.
Der Hund schien den Sinn und die Bedeutung dieser Worte zu verstehen, denn er machte einige humoristische Sprünge, als ob er seinen Dank und seine Zufriedenheit zu er» kennen geben wollte; da er nicht wusste, wie lange der Chevalier auf der Brücke verweilen würde, so streckte er sich platt auf den Erdboden aus, legte den Kopf auf die Vorderfüße, fing an zu bellen und wartete dann ruhig, dass sein neuer Freund weitergehe.
Sobald der Chevalier von der Stelle ging, sprang der Hund auf und hüpfte voraus.
Wie das Tier die Worte des Menschen zu verstehen schien, so schien der Mensch die Gebärde des Tieres zu verstehen.
»Ich verstehe Dich,« sagte er, »Du willst mit mir gehen. Aber ich bin ja nicht dein Herr, und um mir zu folgen, musst Du Jemand verlassen – Jemand der Dich aufgezogen, gefüttert, gehegt und gepflegt hat: vielleicht einen Blinden, den Du geführt, oder eine alte Witwe, deren Trost Du warst! Ein Bisschen Zucker hat Dich bewogen, deinen früheren Herrn zu vergessen, so wie Du später gewiss auch mich vergessen wirst’, wenn ich so schwach wäre Dich mitzunehmen. – Geh, geh, Medor, Du bist nur ein Hund, Du hast nicht das Recht undankbar zu sein. Etwas Anderes wäre es, wenn Du ein Mensch wärst!«
Aber statt dem Befehl zu gehorchen, oder der philosophischen Betrachtung Gehör zu geben, bellte der Hund noch lauter und machte noch lustigere Sprünge.
Diese zweite Gedankenreihe, die im Geiste des Chevaliers wie eine dunkle Flut aufgestiegen war, hatte ihn leider sehr verstimmt. Anfangs mochte er sich wohl geschmeichelt fühlen durch die Zuneigung, die ihm der Hund zuerkennen gegeben; aber er bedachte, dass diese Zuneigung wahrscheinlich einen mehr oder minder schwarzen Undank verberge, und er zog die Beständigkeit dieser so leichtsinnig bewilligten Freundschaft in Zweifel. Endlich bestärkte er sich in einem seit vielen Jahren gefassten Entschluss, keinem lebenden Wesen fortan seine Zuneigung mehr zu schenken. Wie er diesen Entschluss gefasst hatte, wer» den wir später erklären.
Aus dieser Andeutung wird der Leser ersehen, dass der Chevalier de la Graverie ein Misanthrop war.
Fest entschlossen, dieses neue freundschaftliche Verhältnis für immer abzubrechen, versuchte der Chevalier zuerst den Hund durch sanfte Ueberredung zu entfernen. Nachdem er ihn Medor genannt und einen ernsten Versuch, ihn fortzuschicken, gemacht hatte, erneuerte er denselben Befehl und gab ihm dabei eine Menge von Namen aus der Mythologie und dem Alterthume: Morpheus, Jupiter, Castor. Pollur, Actäon, Cäsar, Nestor, Romulus, Tarquin, Ajax. Dann kamen die altscandinavischen Namen Ossian, Fingal, Odin, Thor und die englischen Trim, Tom, Dick, Nick, Mylord. Stop an die Reihe; und als auch diese wirkungslos blieben, kramte er alle in seinem Gedächtnis vorrätigen Phantasienamen: Caro, Sultan, Phanor, Türk, Oli, Mouton u.s.w. aus. Aber alledem Hunderegister entnommenen Namen waren nicht im Stande, den hartnäckigen Schottländer fortzujagen. Das von den Menschen geltende Sprichwort: Niemand ist tauber als Einer, der nicht hören will, fand, in diesem Falle wenigstens auch auf die Hunde eine Anwendung.
Der Jagdhund, der vorhin die Gedanken seines neuen Freundes so leicht erriet, schien jetzt