»Der Mensch ist ein vorzugsweise denkendes Geschöpf; lassen Sie uns also denken, da wir Menschen sind. Ich habe diesem jungen Manne kein Leid gethan, ihn vielmehr in meinen Dienst nehmen wollen. Ist das ein Grund, mich zu erschießen? Nein. Auch hat er kein Mörder-, sondern ein ehrliches Gesicht. Und selbst wenn er ein Meuchler wäre, so ist das noch kein Grund, ihm das Sprechen zu verbieten. Ich beantrage also, ihm die Erlaubnis zu erteilen, seine Verteidigung, lateinisch Defensio, vorzubringen.«
Der erzürnte Bankier war eigentlich dagegen, mußte aber seinem Gaste schon aus Höflichkeit zu Willen sein. Fritze erzählte den Hergang der Sache, konnte aber damit seine Unschuld nicht beweisen, denn es sprach ebensoviel für wie gegen ihn. Da verlangte er, daß man die Spuren untersuche. Man willfahrte ihm und kam da allerdings zu der Überzeugung, daß er nicht gelogen hatte. Man sah die Fußeindrücke nicht nur an der Stelle, wo die Mörder über den Zaun hereingestiegen waren, sondern es wurden auch die Stellen entdeckt, wo sie wieder hinausgesprungen waren. Schließlich fand man hinter dem Hause den Hut des einen, den er während des Sturzes oder beim Ringen mit Fritze verloren hatte. Dieser letztere blutete. Seine Wunde wurde untersucht; sie war nicht gefährlich; die Kugel hatte den Arm nur gestreift.
Man wußte jetzt, daß zwei Menschen eingestiegen waren, um den deutschen Doktor zu erschießen; nur durch das Eingreifen Fritzens hatte die Kugel eine andre Richtung erhalten. Wer aber waren die Mörder, und welchen Grund konnten sie haben, einen Menschen zu töten, der sich erst eine Woche lang im Lande befand und ganz gewiß niemand beleidigt hatte?
»Konnten Sie denn nicht wenigstens eins der Gesichter erkennen?« fragte der Bankier.
»Nicht vollständig,« antwortete Fritze; »aber als der eine auf der Leiter stand und die Pistole nach dem Zimmer richtete, befand sich sein Kopf im Lichte der Lampe; ich konnte sein Gesicht halb von der Seite sehen, und da kam es mir vor, als ob es Ähnlichkeit mit demjenigen des Espada Antonio Perillo habe.«
Das machte die Angelegenheit nur noch verwickelter.' Perillo war zwar ein Mann ziemlich zweideutigen Rufes, doch eines Mordes, selbst auch nur von der Fama, noch nicht geziehen worden. Und wollte man ihm ein solches Verbrechen zutrauen, was hätte er für einen Grund haben können, den Doktor mittels einer Kugel zu beseitigen? Er hatte im Café sogar freundlich mit ihm gesprochen. Allerdings gab der Umstand zu bedenken, daß er ihn offenbar für einen andern gehalten und von einer Maske gesprochen hatte, welche noch fallen werde. Aus diesem letzteren Grunde ließ der Bankier die Polizei doch benachrichtigen. Sie stellte sich in Gestalt zweier Oberbeamten der blau gekleideten Vigilantes ein, von denen Buenos Ayres gerade tausend besitzt. Sie betrachteten die Spuren, erwogen alle Thatsachen und meinten schließlich, daß man zunächst heimlich erfahren müsse, wo Perillo sich zur Zeit der That befunden habe. Keinesfalls aber könne vor dem Stiergefecht gegen ihn eingeschritten werden, da er als Espada unentbehrlich sei und seine Arretur auf das Publikum einen unerwünschten Eindruck machen könne.
Was Fritze Kiesewetter betrifft, so war es ganz unzweifelhaft, daß er dem Doktor das Leben gerettet hatte. Dieser nahm ihn sofort in Dienst, und zwar unter Bedingungen, welche vorteilhafter gar nicht hätten sein können. Er durfte gleich in der Quinta bleiben.
Am andern Morgen war jedermann bestrebt, Billette zu guten Plätzen für die Vorstellung zu erhalten. Die Kasse wurde förmlich belagert. Der Bankier hatte für vier Plätze zu sorgen, drei für sich, seine Gattin und seinen Gast, den Doktor, und den vierten für einen jungen Neffen, welcher während der Herbst- und Wintermonate bei ihm zu Besuch war.
Die Frau des Bankiers war nämlich eine Deutsche, deren Bruder in Lima, der Hauptstadt von Peru, wohnte. Er hieß Engelhardt und hatte zwei Söhne, denen voraussichtlich später einmal das Erbe des kinderlosen Bankiers zufallen mußte. Aus diesem Grunde hatte der letztere gewünscht, einmal einen der Brüder auf längere Zeit bei sich zu haben, und so war ihm der jüngere derselben, Namens Anton, zugeschickt worden. Der sechzehnjährige Knabe hatte die Reise zur See um Kap Horn gemacht und eine sehr unglückliche Überfahrt gehabt. Darum sollte eine zweite Seereise vermieden und die Heimkehr zu Lande über die Anden vorgenommen werden. Nun galt es, eine passende Gelegenheit dazu zu finden. Eine Reise quer durch Südamerika ist mit ungewöhnlichen Gefahren und Entbehrungen verknüpft, und nicht jeder Maultiertreiber ist der Mann, dem man für eine solche Tour einen hoffnungsvollen Knaben anvertraut.
Das Stiergefecht sollte Punkt ein Uhr beginnen; die Plaza de Toros, wie der Cirkus genannt wird, hatte sich aber schon zwei Stunden vorher so gefüllt, daß es für keinen Zuschauer Raum mehr gab. Nur die Logen des Präsidenten und der oberen Behörden waren noch leer.
Auf riesigen Plakaten war in fußlangen Buchstaben das Programm zu lesen. Mehrere Musikkapellen konzertierten, indem sie einander ablösten. Das Publikum suchte sich durch Plaudern die Zeit bis zum Beginn der Vorstellung zu vertreiben. Die Matadores glätteten mit Rechen und Besen den Sand der Arena, und zuweilen erschien aus irgend einer Thür ein bunt gekleideter Kämpfer, welcher langsam und gravitätisch über die Bühne schritt, um sich bewundern zu lassen.
Die Arena war von dem Zuschauerraume durch eine Bretterwand getrennt, welche stark genug war, den Stößen eines Stieres zu widerstehen, doch nicht zu hoch, damit es den Toreadores, welche in Gefahr kamen, möglich war, sich dadurch zu retten, daß sie sich über diese Wand wegschwangen. Vorn war die Thür, aus welcher man die Stiere, hinten diejenige, aus welcher man den Jaguar zu erwarten hatte. Es wurde erzählt, daß man betreffs des nordamerikanischen Bisons zu ganz ungewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln gezwungen gewesen sei. Jetzt konnte man das Tier zwar noch nicht sehen, aber man hörte es brüllen, und diese Stimme ließ gar wohl ahnen, daß es sich nicht ohne Widerstand abschlachten lassen werde.
Diejenigen Plätze, welche hinter der erwähnten Bretterwand begannen, waren die billigen. Da saß Fritze Kiesewetter, welcher von seinem neuen Herrn ein Billet geschenkt bekommen hatte. Die höher liegenden Plätze waren bedeutend teurer. Da saßen die reichen Leute, unter ihnen der Bankier mit seinen drei Begleitern. Der Zufall hatte es gefügt, daß der weißbärtige Herr, welcher sich gestern im Café de Paris Hammer genannt hatte, nebst seinem gestrigen Kameraden die nebenanliegenden Sitze erhalten hatte. Er saß neben Dr. Morgenstern, welcher sich Mühe gab, seinem Nachbar, dem jungen Peruaner, das Ungebührliche und Verwerfliche solcher Tierkämpfe zu demonstrieren.
»Haben Sie schon einmal einen solchen Kampf mit angesehen, mein lieber, kleiner Señor?« fragte er.
»Nein,« antwortete Anton Engelhardt, welcher trotz seiner sechzehn Jahre und trotzdem er von dem Doktor »klein« genannt wurde, schon ebenso lang wie dieser war.
»Dann muß ich Ihnen sagen, daß diese Tierquälereien nichts Neues sind. Sie fanden schon bei den alten Griechen, namentlich in Thessalien, und bei den Römern unter den Kaisein statt. Das waren Heiden, die man entschuldigen kann. Wir aber sind Christen und sollten solche Abscheulichkeiten unterlassen.«
»Aber, Señor, Sie sind ja selbst auch mitgekommen, um sie sich mit anzusehen!«
Diese Bemerkung des Knaben brachte den Gelehrten sichtlich in Verlegenheit; er rettete sich aber durch die Antwort:
»Würde das Gefecht unterbleiben, wenn ich nicht mit hier säße?«
»Nein.«
»So ist mir also kein Vorwurf zu machen. Außerdem bin ich gekommen, um Studien zu machen; ich habe also eine doppelte Entschuldigung, Excusatio, wie der Lateiner sagt. Ich bin Zoolog, und es ist ein zoologisches Schauspiel, welches uns erwartet. Ein reichlicher Fund im Diluvium würde mir aber doch weit lieber sein.«
»Hat es vor der Diluvialzeit auch schon solche Tiergefechte gegeben?« fragte Anton, indem er ein schelmisches Lächeln kaum zu unterdrücken vermochte.
Der Doktor warf ihm einen forschenden Seitenblick zu