Die Sprache
In welcher Sprache mit dem Leser sprechen? Wenn man nach Authentizität, nach Wahrheit strebt, wird die Sprache arm, dürftig. Das Metaphorische, das Komplexe der Rede entsteht auf einer bestimmten Entwicklungsstufe und verschwindet, wenn diese Stufe in umgekehrter Richtung überschritten wird. Die Chefs, die Kriminellen – buchstäblich alle – reizt das Geschraubte[12] in der Sprache der Intelligenz. Und ohne es selbst zu merken, verliert der Intellektuelle alles »Unnütze« in seiner Sprache … Meine ganze weitere Erzählung ist auch von dieser Seite unweigerlich zur Falschheit, zur Unwahrheit verdammt. Nicht ein einziges Mal hing ich einem langen Gedanken nach. Versuche, das zu tun, verursachten geradezu körperlichen Schmerz. Nicht ein einziges Mal in diesen Jahren war ich von der Landschaft entzückt – wenn sich mir etwas eingeprägt hat, so hat es sich später eingeprägt. Nicht ein einziges Mal fand ich in mir die Kraft zu energischer Empörung. All meine Gedanken waren demütig und stumpf. Diese sittliche und geistige Stumpfheit hatte ein Gutes – ich hatte keine Angst vor dem Tod und dachte ruhig daran. Mehr als der Gedanke an den Tod beschäftigte mich der Gedanke an das Mittagessen, an die Kälte, an die Schwere der Arbeit – kurz, der Gedanke an das Leben. Aber war das überhaupt ein Gedanke? Das war eine Art instinktives, primitives Denken. Wie sich in diesen Zustand zurückversetzen[13] und in welcher Sprache davon erzählen? Eine Bereicherung der Sprache bedeutet eine Verarmung der Erzählung im Sinne der Wahrheitstreue, der Wahrhaftigkeit.
Ich muss in der Sprache schreiben, in der ich heute schreibe, und natürlich hat sie sehr wenig gemein mit der Sprache, die ausreichend wäre zur Wiedergabe jener primitiven Gefühle und Gedanken, die mein Leben in jenen Jahren ausmachten. Ich werde mich bemühen, die Abfolge der Empfindungen wiederzugeben – und nur darin sehe ich eine Möglichkeit, die Wahrhaftigkeit der Darstellung zu bewahren. Alles Übrige aber – Gedanken, Worte, Landschaftsbeschreibungen, Exzerpte aus der Literatur[14], Alltagsszenen – wird nicht in ausreichendem Grad wahrhaftig sein. Aber dennoch würde ich wünschen, dass diese Wahrheit die Wahrheit jener Zeit damals wäre, die Wahrheit von vor zwanzig Jahren und nicht die Wahrheit meines heutigen Weltempfindens[15].
[Die Verhaftung]
Am 12. Januar 1937 wurde ich verhaftet* und fürs Erste von einem Praktikanten mit Namen entweder Romanow oder Limanow verhört, einem jungen rotwangigen Praktikanten, der bei jeder seiner Fragen errötete – etwas Vasomotorisches, ein Gefäßspiel, wohl wie bei Grodsenskij*, der bis zu den Haarwurzeln oder sogar bis zu den Fußsohlen errötete.
»Also können Sie schreiben, dass Sie im Jahr 29 diese Ansichten teilten und heute nicht mehr teilen?«
»Ja.«
»Und Sie können das unterschreiben?«
»Natürlich.«
Der vasomotorische Untersuchungsführer[16] ging irgendwo raus und zeigte jemandem etwas, und gegen Abend verlegte man mich an die Lubjanka 14*, in die Moskauer Kommandantur, wo ich schon vor acht Jahren war und sämtliche Gepflogenheiten und Perspektiven der Lubjanka 14 kannte – das ist der »Hundezwinger«, der Sammelpunkt, von dort geht es entweder in die Freiheit, und das kam vor, oder in die Lubjanka 2, das heißt, du bist ein Staatsverbrecher, ein gestandener Feind höchsten Ranges, der kurz vor dem Höchstmaß* steht, oder aber ins Butyrka-Untersuchungsgefängnis, wo du, als Volksfeind erkannt, immerhin der Isolation, mit Minus oder Plus*, unterworfen wirst.
Darum ist die Butyrka zwar Leben, aber keine Freiheit. Frei kommt man aus der Butyrka nicht. Und nicht wegen der staatlichen Reputation (»die GPU* verhaftet keinen umsonst«), sondern einfach wegen des bürokratischen Kreisens dieses Todesrades[17], dem ein anderes Kreistempo zu geben, dessen Lauf zu verändern niemand den Willen, die Fähigkeit, die Erlaubnis und das Recht besitzt. Die Butyrka ist das Staatsrad.
Untersuchungsführer Botwin, der mein Verfahren führte und es zum glücklichen Ende brachte – nicht zu einem Tribunal natürlich, aber mit dem Tribunal hat er mir mehrfach gedroht, sondern bis zur Winzschrift[18] des millionenfachen Kürzels KRTD. Übrigens steckte das Tribunal im Buchstaben »T«. Schon das Wort »Tribunal« führte diesen Todesbuchstaben, doch Untersuchungsführer Botwin konnte wohl kaum die wahre Rolle ermessen, die dieser geheime dunkle Buchstabe, aller magischen Kreise würdig[19], einer theurgischen Deutung würdig, im sowjetischen Alphabet besaß. Untersuchungsführer Botwin war ein träger Mann meines Alters und bereitete mein Verfahren gemächlich vor. In meinem Beisein unterbrach er das Verhör und heftete meiner Akte irgendwelche Zettel an. Die Wohnraumkrise, das Fehlen von Arbeitskabinetten, verschärfte alle Operationen der Tscheka. Botwin bekam das Kabinett für die Arbeit mit mir auf eine bestimmte Zeit, und anschließend wurde er hinausgejagt wie »der letzte Lump«[20].
»Du fliegst hier raus, wie der letzte Lump, wenn du auch nur eine Stunde bleibst«, hörte ich auf dem Korridor die Stimme irgendeiner hochgestellten Person.
Botwin hatte keinen hohen Dienstgrad und war daher zwangsläufig ein Zyniker und Faulpelz, er sparte Zeit, indem er in meinem Beisein arbeitete. Alle Auskünfte, die zu meiner Akte eintrafen, türmten sich ebenfalls um seinen Tisch. Unsere Beine berührten sich während des Verhörs, so eng waren die damaligen Kabinette noch aus Dsershinskijs Zeit. Man [konnte] mit eigenen Augen jede Zeile dessen lesen, was ohne Eile und ohne eilen zu wollen vor einem ausgebreitet wurde. Ich habe damals mit Vergnügen über den Tisch hinweg meine eigene Akte aus dem Jahr 1929 angeschaut und wiedergelesen. Die Verhaftung, die Verhöre, den Ordner mit den Aussagen der Zeugen[21] zu Beginn und Ende der Untersuchung und schließlich das letzte Blatt in meiner damaligen Akte – die Weigerung, den Erhalt des Urteils zu unterschreiben: drei Jahre Lager und fünf Jahre Verbannung*. [Das Zeichen] von der gleichgültigen Hand des diensthabenden Kommandanten. Und wer war damals diensthabender Kommandant für den MOK, den Männereinzeltrakt? Gefängniskommandant war Adamson, aber diensthabend war wer? Nein, es war nicht im MOK, sondern im Etappentrakt, dass ich in den Hungerstreik trat. Der Grund? – ich will nicht mit der Konterrevolution sitzen und verlange meine Verlegung zu den Oppositionellen*.
»Sie sind hier nicht Untersuchungshäftling, Sie sind hier ein Verurteilter[22]«, sagte der diensthabende Kommandant gleichgültig zu mir – und tatsächlich [zeigte er] einen Auszug der Rechtsgrundlage, auf diesem Papier war auch das kostbare Zeichen in irgendwessen Schrift und mein Zeichen: »Unterschrift verweigert«.
Botwin las die Akte ebenfalls noch einmal und las sie gemächlich, las noch einmal auch ein anderes bedrohliches Zeichen: »Akte ins Archiv«. Diese Formel bedeutete Aufbewahrung auf ewige Zeiten.
Ich wusste all das auch so. Und Botwin interessierte etwas anderes. Ihn interessierte einfach, wie dieses Verfahren am geschicktesten ausgestalten, in dem sich für die damalige Zeit grenzenlose Möglichkeiten auftaten. Botwin kam immer von irgendeinem Bericht, einen ganzen Stapel Dokumente in der Hand. Neben Zynismus und Faulheit zeigten sich auch die gebührende Dienstbeflissenheit und der Wunsch, sich nichts entgehen zu lassen, nichts aus der Hand zu geben auf dem ruhmreichen Weg. Aus der Technik das Maximum dessen herauszupressen[23], was sie bieten kann.
»Er streckt die Hände nach der Partei aus«, schrie Botwin.
»Wer?«
»Sie.«
Jemand von den Oberen hatte in den Dokumenten Punkte und Gedankenstriche gesetzt …