Und warum ich? Ich bin nicht Amundsen* und nicht Peary. Meine Erfahrung wird von Millionen Menschen geteilt. Zweifellos sind unter diesen Millionen solche, deren Auge schärfer, deren Leidenschaft stärker, deren Gedächtnis besser und deren Talent reicher ist. Sie schreiben über dasselbe und werden sicherlich prägnanter erzählen als ich.
Wer wenig weiß – weiß viel
Es gibt auch andere, »subtilere« Zweifel. In der Literatur gilt als ausgemacht[2], dass ein Schriftsteller gut nur über das schreiben kann, was er gut und gründlich kennt; je besser seine Kenntnis des »Materials«, je gründlicher seine persönliche Erfahrung auf diesem Gebiet, desto gewichtiger und bedeutsamer das von ihm Geschriebene.
Dem kann man nicht zustimmen. In Wirklichkeit verhält es sich anders. Der Schriftsteller braucht die geringe und wenig gründliche Erfahrung, die ausreichend ist für seine Glaubhaftigkeit, eine Erfahrung, die nicht entscheidend Einfluss nehmen kann auf seine Einschätzungen, emotionale wie logische, auf seine Auswahl, auf das gesamte Gefüge seines künstlerischen Denkens. Der Schriftsteller darf das Material nicht gut kennen, denn das Material wird ihn erdrücken. Der Schriftsteller ist der Späher der Leserwelt[3], er muss Fleisch vom Fleische der Leser sein, für die er schreibt oder schreiben wird.
Kennt er die fremde Welt zu gut und zu genau, nimmt der Schriftsteller ihre Bewertungen in sich auf, und nun wird seine Feder geführt und Wichtigkeit, Gleichgültigkeit oder Lächerlichkeit bekräftigt – Bewertungen der fremden Welt. Der Leser wird den Schriftsteller verlieren (und umgekehrt). Sie werden einander nicht verstehen.
In gewissem Sinn muss der Schriftsteller ein Ausländer sein in der Welt, von der er schreibt. Nur dann kann er kritisch sein gegenüber dem Material, [wird er] frei sein in seinen Bewertungen. Ist seine Erfahrung nicht sehr gründlich, dann kann der Schriftsteller, wenn er das Gesehene und Gehörte dem Urteil des Lesers übergibt, die Maßstäbe richtig zuteilen. Wie aber von dem erzählen, wovon man nicht erzählen darf? Man die passenden Worte nicht finden kann. Vielleicht wäre es einfacher zu sterben.
Man kann nicht gut von dem erzählen, was man aus der Nähe kennt.
Tjutschews Auffassung, ein Gedanke, geäußert, sei Lüge*, beklemmt auch mich. Der sprechende Mensch (der geäußerte Gedanke) kann nur lügen, nur schönfärben. Die Fähigkeit, die Seele nach außen zu kehren, ist äußerst selten und Dostojewskij nachzuahmen unmöglich. All das, was auf dem Papier erscheint, ist in gewissem Maße ausgedacht.
Die Krümel von Aufrichtigkeit bewahren, so unansehnlich sie auch seien. Ringen mit der künstlerischen Wahrheit im Namen der Wahrheit des Lebens[4] – diese Aufgabe ist noch nicht so schwer. Schwer ist das andere, dass die Wahrheit des Lebens selbst auf flüchtige Weise wechselhaft ist. Sie ist eine Eintagsfliege, ist weder die, die sie gestern war, noch die sie morgen sein wird. Das Gefühl ist das Einzige, worin der Künstler nicht lügt. Wenn es ihm gelingt, dieses Gefühl auf beliebige Weise an den Leser heranzutragen, ist er im Recht, hat er seine Schlacht gewonnen. Aber wie?! Kann man dieses Gefühl weitergeben, wenn man nicht die Sprache benutzt, die den Künstler auf seinen Irrfahrten begleitet hat, sondern eine andere Sprache – auch eine unvergleichlich reichere, doch eine andere?
Das Gedächtnis*
Die Unvollkommenheit des Instruments, das sich Gedächtnis nennt, lässt mir ebenfalls keine Ruhe. Viele höchst charakteristische Kleinigkeiten sind unweigerlich vergessen – ich muss nach zwanzig Jahren schreiben. Fast spurlos verloren ist allzu vieles – in der Landschaft wie in den Innenräumen und vor allem in der Abfolge der Empfindungen. Der gesamte Ton der Darstellung kann nicht so sein, wie er sein sollte. Der Mensch merkt sich das Schöne und Gute besser und vergisst das Schlechte leichter. Schlechte Erinnerungen bedrücken, und die Kunst zu leben, falls es sie gibt – ist im Grunde die Kunst zu vergessen.
Ich habe keinerlei Aufzeichnungen gemacht, konnte sie nicht machen. Es gab eine einzige Aufgabe: zu überleben. Die schlechte Ernährung führte zu schlechter Versorgung der Hirnzellen – und das Gedächtnis ließ aus rein physischen Gründen unweigerlich nach. Es wird sich natürlich nicht an alles erinnern. Dabei ist ja die Erinnerung der Versuch, das Frühere zu erleben, und jeder weitere Monat, jedes weitere Jahr lassen den Eindruck und die Empfindung unweigerlich verblassen und verändern ihre Bewertung.
Viele Male kam mir in aller Augenfälligkeit in den Sinn[5], dass der intellektuelle Abstand vom sogenannten einfachen Menschen bis zu Immanuel Kant wohl um ein Vielfaches größer ist als der Abstand vom »einfachen Menschen« bis zu seinem Arbeitspferd.
Knut Hamsun hat uns mit dem »Segen der Erde«[6] einen genialen Versuch hinterlassen, die Psychologie eines einfachen Bauern darzustellen, der fern der Kultur lebt – seine Interessen, seine Handlungen und ihre Motive. Ich kenne in der Weltliteratur kein anderes solches Buch. Überall sonst stopfen die Autoren mit beklemmender Beharrlichkeit ihre Helden mit einer wirklichkeitsfernen, viel komplexeren Psychologie. Der Mensch hat viel mehr vom Tier, als es uns scheint. Er ist um vieles primitiver, als es uns scheint. Und selbst wenn er gebildet ist, nutzt er dieses Instrument zur Verteidigung seiner primitiven Gefühle. In einer Situation aber, wo die tausendjährige Zivilisation abfällt wie eine Schale[7] und das animalische biologische Wesen vollkommen offen hervortritt, werden die Reste der Kultur zum realen und brutalen Kampf um das Leben in seiner unmittelbaren, primitiven Form genutzt.
Wie davon erzählen? Wie begreiflich machen, dass das Denken, die Gefühle, die Handlungen des Menschen schlicht und brutal sind, seine Psychologie äußerst schlicht, sein Wortschatz reduziert und seine Sinne abgestumpft? Von diesem Leben kann man nicht in der ersten Person erzählen. Denn eine solche Erzählung würde niemanden interessieren – so arm und begrenzt wäre die seelische Welt des Helden.
Wie zeigen, dass der seelische Tod vor dem physischen Tod eintritt? Und wie den Prozess des physischen Verfalls[8] und parallel des geistigen Verfalls zeigen? Wie zeigen, dass geistige Kraft keine Stütze sein, den physischen Verfall nicht aufhalten kann?
Vor Zeiten stritt ich in der Zelle des Butyrka-Gefängnisses mit Aron Kogan, einem begabten Dozenten der Fliegerakademie. Kogan war der Ansicht, dass die Intelligenz als gesellschaftliche Gruppe erheblich schwächer sei als jede andere Klasse. Doch in Gestalt ihrer Vertreter sei sie in wesentlich höherem Grad zu Heroismus fähig als jeder Arbeiter und jeder Kapitalist. Das war ein freundlicher, aber falscher Gedanke. Das bestätigte sich schnell bei der Anwendung der berüchtigten »Methode Nr. 3«* in Verhören. Das Gespräch mit Kogan fand Anfang 1937 statt, und geschlagen wurde in der Untersuchungshaft ab der zweiten Hälfte 1937, und die Schläge des Untersuchungsrichters[9] trieben allen Intellektuellen-Heroismus schnell aus. Das bestätigte sich auch in meinen langjährigen Beobachtungen an den unglücklichen Menschen. Geistige Überlegenheit[10] verkehrte sich in ihr Gegenteil, Stärke verkehrte sich in Schwäche und wurde zur Quelle zusätzlicher moralischer Leiden – für jene im Übrigen wenigen Intellektuellen, die außerstande waren, sich von der Zivilisation als einer unbequemen, ihre Bewegungsfreiheit einschränkenden Kleidung zu trennen. Das bäuerliche Leben unterschied sich wesentlich weniger vom Lagerleben als das Leben der Intelligenz, und darum wurden physische Leiden von den Bauern leichter ertragen und waren kein weiterer moralischer Druck.
Der Intellektuelle konnte das Lager im Voraus nicht durchdenken durchdenken, konnte es theoretisch nicht erfassen. Die gesamte persönliche Erfahrung des Intellektuellen ist reinster Empirismus in jedem Einzelfall. Wie von diesen Schicksalen erzählen? Es sind ihrer Tausende, Zehntausende …
Wie das Gesetz des Verfalls herleiten[11]? Das Gesetz des Widerstands gegen den