Auch wenn Volis, die letzte Festung vor den Flammen, ein paar Tagesritte von Andros, Escalons Hauptstadt entfernt war, war es immer noch die Heimat vieler berühmter Krieger des vorherigen Königs. Es war zu einem Leuchtfeuer geworden, einem Ort, innerhalb oder vor dessen Mauern hunderte von Dorfbewohnern und Bauern sicher lebten.
Kyra blickte hinab auf Dutzende von kleinen Lehmhütten, die sich an die Hügel außerhalb des Forts schmiegten. Rauch stieg aus den Schornsteinen auf, Farmer eilten hin und her und bereiteten sich auf den Winter vor – und auf die Festlichkeiten, die heute Nacht bevorstanden. Die Tatsache, dass sich die Dorfbewohner sicher genug fühlten, außerhalb der Mauern zu leben, war ein Zeichen großen Respekts vor der Macht ihres Vaters, das wusste Kyra – ein Anblick, den es sonst nirgendwo in Escalon gab. Doch schließlich waren sie alle nicht mehr als einen Ruf des Horns vom Schutz entfernt. Ertönte der Ruf, versammelten sich sofort alle Männer ihres Vaters.
Kyra blickte zur Zugbrücke hinunter, die immer voller Menschen war, Bauern, Schuhmacher, Schlachter, Schmiede und natürlich Krieger – die alle geschäftig zwischen der Festung und dem Dorf hin und her eilten. Denn das Innere des Forts war nicht nur ein Ort zu leben und zu trainieren, sondern die endlosen gepflasterten Höfe hatten sich auch zu einem bunten Markt für Händler aller Art entwickelt. Jeden Tag bauten sie ihre Stände auf, boten ihre Waren feil, tauschten, präsentierten den Jagd- oder Fangerfolg des Tages oder exotische Tücher oder Gewürze oder Spezereien aus fernen Ländern. Die Höfe des Forts waren immer von exotischen Düften erfüllt, von Tees, von Eintöpfen; sie konnte Stunden dort verbringen. Und auf der anderen Seite der Mauern, in der Ferne, lag Fighter’s Gate, die Trainingsanlage der Männer ihres Vaters, von einer niedrigen Steinmauer umgeben. Bei ihrem Anblick schlug ihr Herz schneller und sie sah aufgeregt zu, wie die Männer auf ihren Pferden versuchten, Ziel mit ihren Lanzen zu treffen – Schilde, die von den Bäumen hingen. Sie sehnte sich danach, mit ihnen trainieren zu dürfen.
Plötzlich hörte Kyra einen Ruf aus Richtung des Torhauses kommen, und sie drehte sich sofort alarmiert um, denn sie kannte die Stimme. Die Menge war unruhig und sie sah, wie sich ihr jüngerer Bruder Aiden, angeführt von ihren beiden älteren Brüdern, Brandon und Braxton, den Weg auf die Hauptstraße bahnten, und Kyra verkrampfte sich. An der Stimme ihres kleinen Bruders konnte sie hören, dass ihre älteren Brüder nichts Gutes im Schilde führten.
Kyra kniff die Augen zusammen, als sie ihre älteren Brüder beobachtete, und eine nur zu bekannte Wut stieg in ihr auf, die sie unbewusst ihren Bogen fester packen ließ. Sie hatten Aiden, den sie fast eine Elle überragten, zwischen sich genommen und zerrten ihn an den Armen aus dem Fort hinaus aufs Land. Aiden, ein kleiner, dünner, sensibler Junge von kaum zehn Jahren, sah zwischen seinen Brüdern, ausgewachsenen Jungen von 17 und 18 Jahren, besonders verletzlich aus. Sie sahen sich alle ähnlich, hatten alle starke Kiefer, ein stolzes Kinn, dunkelbraune Augen und lockiges braunes Haar – auch wenn Brandon und Braxton ihre Haare kurz geschoren hatte, während Aidans Haar ihm immer noch ungebändigt in die Augen fiel. Sie sahen sich alle ähnlich – doch sie glich ihnen mit ihrem hellblonden Haar und den grauen Augen überhaupt nicht. Sie trug gewebte Hosen, ein wollenes Hemd und Mantel und war dünn und blass – viel zu blass, hatte man ihr gesagt, mit hoher Stirn und kleiner Nase, gesegnet mit einem hübschen Gesicht, das viele Männer zweimal hinsehen ließ. Besonders jetzt, wo sie 15 wurde, bemerkte sie die Blicke in zunehmendem Maße.
Sie fühlte sich unbehaglich dabei. Sie zog nicht gerne die Aufmerksamkeit anderer auf sich und fand sich auch nicht schön. Ihr Aussehen war ihr egal – alles was sie interessierte waren Training, Tapferkeit und Ehre. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie wie ihre Brüder ihrem Vater geähnelt hätte, einem Mann, den sie über alles liebte. Sie suchte im Spiegel immer wieder nach etwas von ihm in ihren Augen, doch so sehr sie auch suchte, sie fand es nicht.
„Ich habe gesagt, lasst mich in Ruhe!“, rief Aidan und seine Stimme hallte bis zu ihr hinauf. Als sie die Schreie ihres geliebten kleinen Bruders hörte, stand sie kerzengrade wie eine Löwin, die ihr Junges beobachtet. Auch Leo erstarrte und die Haare auf seinem Rücken stellten sich auf.
Nachdem ihre Mutter schon lange nicht mehr bei ihnen war, fühlte Kyra sich verantwortlich, über Aidan zu wachen, ihm die Mutter zu geben, die er niemals gehabt hatte.
Brandon und Braxton zerrten ihn grob die Straße entlang, weg vom Fort, auf eine einsame Landstraße, die zu einem einsamen Wald führte, und sie sah, dass sie ihn zwangen, einen Speer zu werfen, der viel zu groß für ihn war.
Aidan war ein leichtes Ziel für Braxtons und Brandons Gemeinheiten. Sie waren stark und mutig, wie Jungen in ihrem Alter eben sind, doch sie waren bessere Maulhelden als wirkliche Krieger, und sie brockten sich immer wieder Ärger ein, aus dem sie alleine nicht wieder herauskamen. Es machte sie wütend.
Kyra erkannte, was vor sich ging: Brandon und Braxton zerrten Aidan mit sich auf die Jagd. Sie sah die Weinschläuche in ihren Händen, und wusste, dass sie getrunken hatte. Sie kochte vor Wut. Nicht genug, dass sie sinnlos irgendein Tier töten würden, doch nun schleppten sie auch noch trotz seines Protests ihren kleinen Bruder mit sich.
Kyras Instinkte erwachten und sie rannte mit Leo an ihrer Seite den Hügel hinunter, um sie zu stellen.
„Du bist alt genug!“, sagte Brandon zu Aidan.
„Es ist höchste Zeit, dass du ein Mann wirst“, grunzte Braxton.
Kyra brauchte nicht lange, um sie einzuholen. Sie rannte hinaus auf die Straße und blieb schwer atmend vor ihnen stehen. Leo stand mit gesträubtem Fell neben ihr und die Brüder blieben stehen und sahen sie erschrocken an.
Sie konnte die Erleichterung in Aidans Miene sehen.
„Hast du dich verlaufen?“, höhnte Braxton.
„Du stehst im Weg“, sagte Brandon. „Geh zurück zu deinen Pfeilen und Stöcken.“
Die beiden lachten höhnisch, doch sie sah sie böse an und Leo begann zu knurren.
„Halt dein Biest von uns fern“, sagte Braxton, und versuchte mutig zu klingen, doch die Angst in seiner Stimme war offensichtlich als er seinen Speer fester in seinen Händen hielt.
„Und was denkt ihr, wo ihr Aidan hinbringt?“, fragte sie todernst und sah sie ungerührt an.
Sie hielten inne und ihre Gesichter wurden langsam härter.
„Wir bringen ihn hin, wo immer es uns passt“, knurrte Brandon.
„Er geht mit uns auf die Jagd, um zu lernen wie man ein Mann wird“, sagte Braxton und betonte das letzte Wort bewusst.
Doch sie ließ nicht locker.
„Er ist zu jung“, sagte sie mit fester Stimme.
Brandon verzog das Gesicht.
„Wer sagt das?“
„Ich sage das.“
„Bist du seine Mutter?“, fragte Braxton.
Lyra wurde rot vor Wut, und wünschte sich mehr denn je, dass ihre Mutter jetzt hier wäre.
„So sehr wie du sein Vater bist“, antwortete sie.
Sie standen in angespannter Stille da und Kyra sah Aidan an, der ihren Blick aus ängstlichen Augen erwiderte.
„Aidan“, fragte sie, „möchtest du mit ihnen auf die Jagd gehen?“
Aidan senkte beschämt den Blick. Er stand schweigend da und wich ihrem Blick aus. Kyra hatte Bedenken, ein Machtwort