Oliver lächelte. „Wieder Newtons drittes Gesetz, nur dass diesmal Antrieb anstatt Auftrieb wirkt. Antrieb ist das gleiche Prinzip, das auch bei einem Dampfmotor wirkt. Eine kontrollierte Explosion an einem Ende verursacht Bewegung in die andere Richtung. Aber da eine Rakete bis ins Weltall fliegen soll, muss die Explosion massiv sein.“
Oliver wurde ganz aufgeregt, wenn er über Physik sprach. Es störte ihn nicht, dass die anderen Kinder ihn anstarrten, als wäre er verrückt.
Er drehte sich wieder zur Tafel. Mrs. Belfry lächelte ihn stolz an.
„Und wisst ihr auch, was diese Erfinder gemeinsam hatten, die Wrights, die Montgolfiers und Robert Goddard, der Erfinder der Rakete? Ich werde es euch verraten: Sie haben Dinge getan, die alle anderen für unmöglich gehalten haben! Ihre Erfindungen waren verrückt. Stellt euch vor, jemand würde euch sagen, dass wir nach dem Prinzip der alten chinesischen Katapulte einen Menschen ins All schießen könnten! Klingt verrückt, oder? Trotzdem waren es weltbewegende Erfindungen, die die Geschichte der Menschheit für immer verändert haben!“
Oliver wusste, dass sie mit ihm redete. Sie sagte ihm, dass er niemals aufgeben sollte, egal was die anderen dachten.
Dann geschah etwas Bemerkenswertes. Als Reaktion auf Mrs. Belfrys Begeisterung wurde die ganze Klasse still. Es war nicht die angespannte Stille vor einem Angriff, sondern die demütige Stille, etwas Inspirierendes gelernt zu haben.
Oliver war stolz. Mrs. Belfry war wirklich die tollste Lehrerin, der er je begegnet ist. Sie war der einzige Mensch, der auch nur annähernd so begeistert von der Welt der wissenschaftlichen Erfindungen war, wie er selbst. Ihr Enthusiasmus brachte sogar seine ungehobelten Klassenkameraden zum Schweigen, wenn auch nur vorübergehend.
Als eine starke Windböe an den Fensterscheiben rüttelte, schreckten alle zurück. Sie sahen aus den Fenstern. Düstere Wolken hingen tief über der Erde.
„Sieht aus, als würde der Sturm uns bald erwischen“, sagte Mrs. Belfry.
Schon ertönte die Stimme des Direktors aus dem Lautsprecher.
„Liebe Kollegen, liebe Schüler, der Nationale Wetterdienst hat soeben eine Warnung herausgegeben. Wir erwarten einen Sturm von nie dagewesener Stärke. Uns wurde geraten, die Schüler vorzeitig aus dem Unterricht zu entlassen und nach Hause zu schicken.“
Alle schrien begeistert durcheinander und Oliver konnte nur mit Mühe die Ansage zu Ende hören.
„Der Sturm soll uns in der nächsten Stunde erreichen. Die Busse stehen draußen bereit. Bitte geht direkt nach Hause. Wenn der Sturm uns erreicht, soll niemand mehr draußen sein. Da die ganze Stadt von der Wetterwarnung betroffen ist, werden eure Eltern euch zu Hause erwarten. Jeder, der dann noch auf dem Schulgelände erwischt wird, muss mit einer Suspension rechnen.“
Außer Oliver schien sich niemand Sorgen zu machen. Die Kinder interessierten sich nur dafür, dass sie schulfrei hatten. Sie rafften ihre Bücher, Taschen und Jacken zusammen und rannten aus dem Klassenzimmer wie eine Herde Wasserbüffel.
„Das war wirklich beeindruckend“, sagte Mrs. Belfry zu Oliver, als sie ihre kleinen Modelle in einem Korb verstaut hatte. „Kommst du auch sicher nach Hause?“, fragte sie besorgt.
Oliver nickte. „Ich nehme den Bus, zusammen mit den anderen“, sagte er. Sofort wurde ihm klar, dass das bedeutete, mit Chris und den anderen Kindern fahren zu müssen. Er erschauderte.
Dann schwang er seinen Rucksack auf den Rücken und machte sich auf den Weg nach draußen. Der Himmel war inzwischen so schwarz, dass er fast dunkel war. Spannung lag in der Luft.
Mit gebeugtem Kopf ging Oliver zum Bus. Da bemerkte er etwas hinter sich, das ihm weit mehr Angst einjagte, als jeder Sturm. Chris und seine Spießgesellen.
Oliver drehte ab und rannte weg. Er rannte direkt zum ersten Bus in der Reihe. Er war bereits voll und wollte gerade anfahren, als Oliver gegen die Tür trommelte. Ohne zu sehen, wohin er ihn bringen würde, stieg er ein.
Die Tür schloss sich und der Bus fuhr los. Gerade rechtzeitig, bevor Chris ihn erreichen konnte. Er starrte Oliver wütend durch die geschlossene Scheibe an.
Doch Oliver bewegte sich bereits mit dem Bus in eine unbekannte Richtung. Oliver sah, wie sein Bruder in einen anderen Bus stieg, bevor er um die nächste Ecke bog und außer Sichtweite war.
Wenn der andere Bus die gleiche Route fuhr wie dieser, dann würden Chris und seine Freunde genau sehen, wo Oliver ausstieg. Er schluckte schwer. Sie würden ihm bestimmt eine Abreibung verpassen! Er biss sich auf die Unterlippe und sehnte sich nach seinem Unsichtbarkeits-Mantel. Wenn er doch nur schon fertig wäre! In dieser Situation wäre er perfekt!
Der Himmel brach auf und dicke Tropfen fielen auf die Straße. Keine Minute später zerriss der erste Blitz den Himmel. Sollte der Sturm sie nicht erst in einer Stunde erreichen?
Der Bus wankte gefährlich die Straße entlang. Oliver griff nach einer Metallstange und stieß gegen die Kinder, die um ihn herum standen. Seine Besorgnis war nun echter Furcht gewichen. Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel. Einige Kinder schrien vor Schreck auf.
Oliver überlegte, ob er den Sturm zu seinem Vorteil nutzen konnte. Nachdem er wegen Chris nicht an seiner eigentlichen Haltestelle aussteigen konnte, musste er am besten in einer Schar von anderen untertauchen und spontan aussteigen. Der dichte Regen und der allgemeine Tumult würde ihm bestimmt helfen, von Chris unbemerkt davonzukommen.
Der Bus hielt an, eine Gruppe von Kids drängte sich zum Ausgang. Oliver sah sich um und erkannte, dass sie kurz davor waren, in sein schäbiges Viertel einzubiegen. Die meisten Kinder, die auf die Campbell Junior High gingen, wohnten in dem benachbarten, freundlicheren Viertel. Oliver kannte sich hier zwar nicht richtig aus, aber er hatte eine grobe Vorstellung davon, in welche Richtung er gehen musste.
Kurz entschlossen zog er den Kopf ein und stieg mit den anderen Kindern zusammen aus. Der Regen hatte ihn in wenigen Augenblicken vollkommen durchnässt. Er wollte sich mit der Menge von der Haltestelle wegbewegen, aber zu seinem Schreck verstreuten sich die Kinder sofort in alle Richtungen. Bevor er reagieren konnte, stand er alleine mitten auf dem Gehweg. Keine Sekunde später sah er den zweiten Bus ankommen. Chris hatte Oliver sofort gesichtet, wild gestikulierend machte er seine Freunde auf Oliver aufmerksam.
Jeden Augenblick würde sich die Tür öffnen und die Spießgesellen über ihn herfallen.
Oliver rannte los.
Er hatte keine Ahnung, wohin ihn die Straße führen würde, aber er rannte trotzdem immer weiter, ohne sich umzudrehen. Regen und Wind schlugen ihm entgegen und machten es ihm schwer, aber dies war eine der seltenen Situationen, in der es ein Vorteil war, klein und wendig zu sein. Chris hatte bestimmt noch größere Schwierigkeiten, sich gegen den Wind voranzukämpfen. Doch Chris war nicht sein einziges Problem. Seine Freunde waren auch hinter ihm her und Oliver wusste, dass das Mädchen sehr schnell rennen konnte. Er blickte über die Schulter und sah sie hinter sich.
Oliver rannte an ein paar Geschäften vorbei und bog in eine enge Gasse ein. Er knallte gegen kleine und große Hindernisse, wie einen alten Einkaufswagen, leere Kisten und Ähnliches.
Dann bog er um eine Ecke und war einen kurzen Moment lang außer Sichtweite der Bullys. Eine gewaltige Windböe warf eine große Mülltonne um. Plötzlich hatte er eine Idee. Ohne zu zögern kletterte er in die Tonne und versteckte sich zwischen alten Folien und Essensresten.
Er wartete.
Die Beine des Mädchens erschienen auf dem Gehsteig neben der Tonne. Sie wurden langsamer und drehten sich langsam um sich selbst. Sie suchte ihn. Dann hörte er weitere Schritte. Chris und die anderen waren angekommen.
„Wo ist er?“, rief einer.
„Wie konntest du ihn verlieren?“, fragte Chris.
„Ich hatte ihn die ganze Zeit im Blick und auf einmal war er weg!“, rief das Mädchen.
Oliver