Gerade als er den Koffer schließen wollte, fiel ihm auf, dass sich die Drehscheibe bewegt hatte. Ein Pfeil zeigte jetzt auf etwas, das Oliver an einen Bunsenbrenner erinnerte, und ein anderer zeigte auf die Figur einer Frau. Ein dritter Pfeil zeigte auf eine Art Kappe, wie man sie beim Universitätsabschluss trug. Oliver zerbrach sich den Kopf darüber, was das bedeuten konnte. War es möglich, dass der Kompass ihn zu Mrs. Belfry schickte? Der Bunsenbrenner konnte ihr Fach – Physik – symbolisieren und sie hatte einen Universitätsabschluss.
Etwas anderes fiel ihm dazu nicht ein. Oliver war aufgeregt. Das Universum leitete ihn!
Er schloss den Koffer und drehte sich noch einmal zu den Blues um. Stumm sahen sie ihn an. Ihr Gesichtsausdruck verursachte in Oliver ein Gefühl tiefer Befriedigung. Doch dann sah er, wie Chris die Faust ballte. Er kannte ihn gut genug um zu wissen, was das bedeutete. Chris würde jeden Moment auf ihn losgehen.
Schnell benutzte Oliver seine Kräfte, um Chris‘ Schnürsenkel zu verknoten. Als Chris aufsprang, fiel er augenblicklich der Länge nach hin. Er stöhnte.
„Chris! Die Schnürsenkel!“, rief Mom.
Dad wurde blass. „Sie… sie haben sich selbst verknotet…“
Christ funkelte Oliver wütend an. „Das warst du! Du Freak!“
Oliver zuckte unschuldig mit den Schultern. „Keine Ahnung, was du meinst.“
Dann nahm er seinen Koffer und ging. Er schmetterte die Haustür hinter sich ins Schloss.
Als er die Straße entlangging, wuchs ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Er würde die Blues nie wieder sehen.
KAPITEL FÜNF
Oliver stand vor der Campbell Junior High. Auf dem Pausenhof ging es ebenso wild und laut zu wie immer. Kinder rannten durcheinander und warfen Bälle wie Handgranaten.
Oliver fühlte sich beklommen. Es lag nicht an den anderen Kindern, er hatte keine Angst mehr vor ihnen und ihren Gemeinheiten. Es lag daran, dass er gleich Mrs. Belfry begegnen würde.
Aus ihrer Sicht hatte er gestern zuletzt ihren Unterricht besucht, aber für Oliver war es eine Ewigkeit her. Seitdem hatte er viele unglaubliche Abenteuer erlebt und das hatte ihn verändert. Er war jetzt reifer und weiser und er fragte sich, ob sie es bemerken würde, wenn sie sich gegenüberstanden.
Er überquerte den Pausenhof, wobei er ein paar Bällen ausweichen musste, und ging dann zielstrebig zum Physiksaal, in dem er Mrs. Belfry zuletzt gesehen hatte. Doch der Saal war leer. Er hatte gehofft, dass sie wieder vor der Stunde dort wäre und er sich in Ruhe mit ihr unterhalten konnte, aber jetzt hatte er keine andere Wahl als sich einen Platz in der ersten Reihe zu nehmen und zu warten.
Er blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie die Kinder über den Sportplatz rannten. Es war seltsam, wieder als ganz normaler Schüler in einer ganz normalen Schule zu sein. Oliver dachte an die anderen Seher, seine Freunde.
Der Saal füllte sich langsam. Samantha kam herein. Sie hatte ihn nachgeäfft, als er Mrs. Belfrys Fragen beantwortet hatte. Und jetzt erschien Paul, der Junge, der Oliver mit Papierkugeln beworfen hatte.
Es gefiel Oliver nicht, mit ihnen in einem Raum zu sein, auch wenn ihre Sticheleien und Schikanen ihn jetzt nicht mehr einschüchtern konnten. Dank der Schule für Seher und seiner Freunde dort, war er stark geworden. Er stand jetzt über den Dingen, sie konnten ihm nichts mehr anhaben.
Der Raum war jetzt voll, die Kinder lachten und redeten laut durcheinander, bis Mrs. Belfry durch die Tür kam. Sie sah nervös aus.
„Bitte entschuldigt, dass ich mich verspätet habe“, sagte sie und legte ihre Unterrichtsmaterialien auf das Pult. Darunter befand sich ein roter Apfel. „Heute reden wir über die verschiedenen Kräfte.“ Sie nahm den Apfel in die Hand und ließ ihn zu Boden fallen. „Wer weiß, welche Kraft hier gewirkt hat?“
Oliver hob die Hand und Mrs. Belfry nickte ihm zu.
„Die Schwerkraft.“
Sofort hörte er, wie Samantha ihm mit verstellter Stimme nachplapperte und einige Kinder kicherten.
Oliver beschloss, dass es an der Zeit war, ihr eine Kleine Lektion zu erteilen. Nichts Schlimmes, nur einen kleinen Denkzettel.
Er drehte sich um und sah ihr direkt ins Gesicht. Dann ließ er eine Handvoll Staub direkt in ihre Nase wehen.
Samantha nieste und ein riesiger Popel hing ihr aus der Nase. Die Kinder grölten vor Lachen und zeigten auf sie.
Mrs. Belfry reichte ihr ein Taschentuch und Samantha wischte schnell alles weg. Ihre Wangen waren purpurrot geworden.
Oliver lächelte und drehte sich wieder nach vorne.
Mrs. Belfry klatschte in die Hände um die Aufmerksamkeit der Kinder wieder auf sich zu ziehen. „Die Schwerkraft ist die Kraft, die unsere Füße auf dem Boden hält und alles in Richtung Erde fallen lässt. Oliver, woher wusstest du, dass es heute um die Schwerkraft gehen soll?“
„Weil Sir Isaac Newton das Gesetz der Schwerkraft entdeckte, als er einen Apfel zu Boden fallen sah. Er hat ihn aber nicht am Kopf getroffen, das ist ein allgemeiner Irrglaube“, sagte Oliver mit lauter, selbstbewusster Stimme.
In diesem Moment spürte er, dass ihn etwas am Kopf traf. Ein Stift fiel klappernd neben seinem Stuhl zu Boden. Er musste sich nicht umdrehen um zu wissen, dass Paul ihn geworfen hatte.
Versuch‘ das noch einmal, aber diesmal ohne Hände, dachte Oliver.
Er drehte sich um und sah Paul fest in die Augen. Schon nutzte er seine Kräfte um Pauls Hände an den Tisch zu kleben.
Paul blickte erschrocken hinab. Er versuchte, seine Hände zu bewegen, aber sie steckten fest.
„Was ist hier los?“, rief er.
Alle drehten sich um und sahen Paul, der verzweifelt versuchte. Seine Hände vom Tisch loszureißen. Sie lachten und gingen ganz offensichtlich davon aus, dass er nur herumalberte.
Nur Oliver wusste, dass die Panik in Pauls Augen echt war.
Mrs. Belfry sah ihn genervt an. „Also wirklich, Paul, deine Hände am Tisch festzukleben war nicht sehr schlau.“
Die Klasse tobte.
„Das war ich nicht! Irgendetwas geschieht mit mir!“, rief er.
In dem Augenblick entfuhr Samantha ein weiteres Niesen.
Grinsend sah Oliver wieder zur Tafel.
Mrs. Belfry klatsche wieder in die Hände. „Hier spielt die Musik, Leute. Sir Isaac Newton war ein englischer Mathematiker und Physiker. Weiß irgendjemand, wann er das Gesetz der Schwerkraft formulierte?“
Olivers Hand schoss wieder in die Höhe. Er war der einzige, der sich meldete, also nickte Mrs. Belfry ihm wieder zu. „Ja, Oliver?“
„1687.“
Sie strahlte. „Das ist richtig!“
Schon hörte Oliver Pauls Gespött. Dass seine Hände am Tisch festklebten, war ihm wohl noch nicht genug. Oliver musste ihm auch den Mund verschließen.
Wieder drehte er sich um und sah Paul ins Gesicht. Er stellte sich vor, wie ein Reißverschluss seine Lippen versiegelte und schon war Pauls Mund geschlossen.
Sofort gab er ein gedämpftes, panisches Geräusch von sich. Einige Schüler drehten sich zu ihm um und kicherten. Als Mrs Belfry ihn ansah, wirkte sie beunruhigt.
Sofort wurde Oliver klar, dass er zu weit gegangen war. Schnell machte er alles rückgängig, aber es war zu spät. Paul zeigte