Ein Anderer drehte sich in Richtung Sophia und Kate, als sie sich näherten. Die Feindschaft war spürbar.
“Wir wollen solche Leute wie euch hier nicht”, keifte er. “Raus hier!”
Die schiere Wut dabei war mehr als Sophia erwartet hatte. Trotzdem ging sie zurück auf die Straße und zog Kate mit sich, sodass ihre Schwester nichts tun würde, was sie später bereuen würden. Sie hatte ihren Schürhaken irgendwo unterwegs auf der Flucht verloren, aber sie hatte immer noch einen Blick, der sagte, dass sie auf irgendetwas schlagen wollte.
Sie hatten keine Wahl: sie würden ihr Essen stehlen müssen. Sophia hatte auf die Großzügigkeit von jemandem gehofft. Doch das war nicht die Art und Weise, wie die Welt funktionierte, das wusste sie.
Es war Zeit ihre Talente einzusetzen, das erkannten sie beide und sie nickten sich stumm gleichzeitig zu.
Sie standen auf entgegengesetzten Seiten der Allee und schauten und warteten, während die Bäckerin arbeitete. Sophia wartete, bis die Bäckerin ihre Gedanken lesen konnte, und sagte ihr dann, was sie sie hören lassen wollte.
Oh nein, dachte die Bäckerin. Die Rollen. Wie konnte ich sie nur drinnen vergessen?
Kaum hatte die Bäckerin den Gedanken gehabt, handelten Sophia und Kate, sie rannten nach vorne, in der Sekunde in der die Frau ihnen den Rücken zugedreht hatte, um die Rollen zu holen. Sie bewegten sich schnell, jeder griff sich einen Armvoll Kuchen, genug um ihre Mägen zufüllen, die schon fast vor Hunger platzen.
Dann duckten sie sich beide in einer Gasse und kauten heißhungrig. Schon bald fühlte Sophia, dass ihr Bauch voll war, ein merkwürdiges und angenehmes Gefühl, eins, das sie noch nie erlebt hatte. Das Haus der Herrenlosen gab nicht mehr als das nötigste für seine Bewohner aus.
Jetzt lachte sie, als Kate versuchte, ein ganzes Gebäck in den Mund zu schieben.
Was, fragte ihre Schwester.
Es ist einfach schön, dich glücklich zu sehen, schickte Sophia zurück.
Sie war sich nicht sicher, wie lange dieses Glück andauern würde. Sie hielt mit jedem Schritt nach den Jägern Ausschau, die hinter ihnen her sein könnten. Das Waisenhaus würde sich nicht mehr darum bemühen, sie zurückzugewinnen, als ihre Verträge es wert waren, aber wer konnte das wissen, wenn es um die Rachsucht der Nonnen ging? Zumindest müssten sie sich vor Wachmännern in Acht nehmen und nicht nur, weil sie geflohen waren.
Diebe wurden immerhin in Ashton gehängt.
Wir dürfen nicht mehr so aussehen, wie ausgerissene Waisenkinder oder wir können nie durch die Stadt laufen, ohne das die Leute uns anstarren und versuchen uns einzufangen.
Sophia schaute ihre Schwester an, überrascht von dem Gedanken.
Willst du Kleider stehlen? schickte Sophia zurück.
Kate nickte.
Der Gedanke brachte noch eine extra Note an Angst und dennoch wusste Sophia, dass ihre Schwester – die immer praktisch war – recht hatte.
Sie standen gleichzeitig auf und verstauten die restlichen Kuchen an ihren Hüfttaschen. Sophia hielt nach Kleidung Ausschau, als sie spürte, wie Kate sie am Arm berührte. Sie folgte ihrem Blick und sah es: eine Wäscheleine, ganz oben auf dem Dach. Sie war unbewacht.
Natürlich war sie das, erkannte sie erleichtert. Wer würde schon eine Wäscheleine bewachen?
Trotzdem konnte Sophia ihr Herz klopfen hören, als sie auf ein weiteres Dach kletterten. Sie hielten inne, schauten sich um und holten dann die Leine ein, wie ein Fischer, vielleicht sein Fischernetz eingeholt hätte.
Sophia stahl ein Kleid aus grüner Wolle, zusammen mit einem cremefarbenden Unterkleid, wahrscheinlich die Art Kleid, die die Frau eines Farmers tragen würde, aber es war trotzdem unglaublich prächtig für sie. Zu ihrer Überraschung wählte ihre Schwester ein Unterhemd, Reithosen und Wams, die sie eher aussehen ließen, wie ein kurzhaariger Junge, als das Mädchen das sie war.
“Kate”, beschwerte sich Sophia. “Du kannst nicht so herumrennen!”
Kate zuckte die Schultern. “Keiner von uns soll so aussehen. Dann kann ich mich auch gleich bequem anziehen.”
Da war etwas Wahres dran. Die prunkvollen Gesetze besagten klar, welche Klasse von Gesellschaft was tragen konnte, die Herrenlosen und die Abhängigen. Hier waren sie also und brachen die Gesetze, warfen ihre Lumpen weg, das Einzige was sie tragen durften und zogen sich besser an, als sie waren.
“Okay”, sagte Sophia. “Ich werde nicht streiten. Außerdem wird das vielleicht alle abhalten, die nach zwei Mädchen suchen”, sagte sie mit einem Lächeln.
“Ich sehe nicht aus wie ein Junge”, schnappte Kate in offensichtlicher Empörung zurück.
Sophia lächelte dabei. Sie retteten ihre Kuchen, stopften sie in ihre neuen Taschen und gingen weiter.
Der nächste Teil war schwerer, um darüber zu lächeln; es gab noch so viele Dinge, die sie tun mussten, wenn sie wirklich überleben wollten. Sie mussten einen Unterschlupf finden, das war das eine, und dann mussten sie schauen, was sie tun sollten, wo sie hingehen sollten.
Eins nach dem anderen, ermahnte sie sich selbst.
Sie kletterten wieder runter zur Straße und dieses Mal ging Sophia voran, versuchte eine Route durch den ärmeren Bereich der Stadt zu finden aber für ihren Geschmack immer noch zu nah am Waisenhaus.
Sie sah eine Reihe von ausgebrannten Häusern vor ihnen, die sich offensichtlich nicht von einem der Feuer erholt hatten, das manchmal durch die Stadt fegte, wenn der Fluss niedrig war. Es wäre ein gefährlicher Ort zum Ausruhen.
Trotzdem ging Sophia darauf zu.
Kate warf ihr einen fragenden, skeptischen Blick zu.
Sophia zuckte mit den Schultern.
Gefährlich ist besser als nichts, sandte sie.
Sie näherten sich vorsichtig und gerade als Sophia ihren Kopf um die Ecke steckte, wurde sie von ein paar Personen erschreckt, die vor ihr aus den Trümmern entstiegen. Sie erschienen so rußgeschwärzt, von den verkohlten Überresten, daß Sophia für einen Moment glaubte, sie wären im Feuer gewesen.
„Raus hier! Das ist unser Revier!“
Einer von ihnen kam auf Sophia zu und sie kreischte, während sie einen unfreiwilligen Schritt zurückmachte. Kate sah aus, als wenn sie kämpfen wollte, aber dann zog der andere Typ einen Dolch, der heller schien, als alles andere hier.
“Das ist unser Revier! Sucht euch eure eigene Ruine oder ich lasse euch dafür bluten.”
Die Schwester rannten, legten so viel Distanz zwischen ihnen und dem Haus wie sie konnten. Mit jedem Schritt war Sophia sich sicher, dass sie die Fußschritte der Messer schwingenden Schläger hören konnte, oder die der Wachmänner oder der Nonnen irgendwo hinter ihnen.
Sie liefen so lange, bis ihre Beine wehtaten und der Nachmittag zu dunkel wurde. Zumindest konnten sie sich damit trösten, dass sie mit jedem Schritt weiter vom Waisenhaus entfernt waren.
Endlich erreichten sie den besseren Teil der Stadt. Aus irgendwelchen Gründen erhellte sich Kates Gesicht beim Anblick davon.
“Was ist los?”, fragte Sophia.
“Die Penny Bücherei”, antwortete ihre Schwester. “Dort können wir rein. Ich schleiche mich manchmal dort hin, wenn die Schwestern uns Botengänge machen lassen und der Bibliothekar lässt mich immer rein, auch wenn ich kein Geld habe, um zu zahlen.”
Sophia hatte nicht viel Hoffnung, dass sie dort Hilfe finden würden, aber sie hatte auch keine bessere Idee. Sie ließ sich von Kate führen und sie liefen auf einen geschäftigen Platz zu, wo sich Geldverleiher mit Advokaten mischten und es sogar ein paar Kutschen gemischt mit den normalen Pferden und Fußgängern gab.
Die