„Absolut“, sagte Keri. „Ich erinnere mich, dass du mir davon erzählt hast. Also hilf mir noch einmal auf die Sprünge hinsichtlich dieses Vista Events.“
„Die Vista ist sozusagen deren größte Party. Sie findet nur einmal im Jahr statt, und keiner weiß, wann. Dieses Event wird gern etwas früher angekündigt, weil niemand es verpassen will. Deshalb hat wahrscheinlich mein Freund davon gehört, obwohl es erst morgen Abend stattfindet.“
„Und die Vista unterscheidet sich von den anderen Hill House Partys, richtig?“, versuchte Keri ihr auf die Sprünge zu helfen, wohl in dem Wissen, dass Susan sich nicht gern an die Details erinnerte, und ihr gleichzeitig zuredete, es doch zu tun.
„Ja, bei den anderen Partys zahlt der Freier für das Mädchen, das er will und darf dann mit dem Mädchen anstellen, was er will. Die Männer können sich jede aussuchen und das jeweilige Mädchen kann von jedem benutzt werden, die ganze Nacht hindurch. Aber bei der Vista läuft es anders. In dieser Nacht wird ein Mädchen von den Organisatoren ausgewählt – sie hat normalerweise etwas ganz Besonderes an sich – und wird zum Blutpreis ernannt.“
Sie hielt inne und Keri spürte, dass sie nicht weitersprechen wollte, dass sie der Frau, die sie gerettet hatte, und die ihr gezeigt hatte, dass sie noch eine Zukunft hatte, nicht wehtun wollte.
„Es ist okay, Susan“, meinte Keri. „Erzähl weiter. Ich muss alles wissen.“
„Also, das Event beginnt um circa neun Uhr abends. Erstmal ist es wie bei einer normalen Hill House Party. Aber dann bringen sie das Mädchen rein, das sie als Blutpreis ausgewählt haben. Wie ich schon sagte, sie hat meistens etwas Besonderes an sich. Vielleicht ist sie noch Jungfrau; vielleicht wurde sie erst an diesem Tag entführt und ist somit auf allen Nachrichtensendern. Einmal war es ein ehemaliger Kinderstar, der auf Drogen gekommen und auf der Straße gelandet war.“
„Und dieses Jahr ist es Evie“, bohrte Keri weiter.
„Ja, da gibt’s ein Mädchen namens Lupita aus der Zeit, als ich noch angeschaffen ging, mit der habe ich noch Kontakt. Sie arbeitet immer noch auf der Straße und hörte ein paar Typen darüber reden, dass sie dieses Jahr die Tochter einer Polizistin nehmen. Sie benutzten den Ausdruck „Mini Pig“, um sie zu beschreiben.
„Sehr kreativ“, murmelte Keri bitter. „Und du sagtest, dass sie sie ausgesucht haben, weil ich ihnen zu dicht auf den Fersen bin?“
„Genau“, bestätigte Susan. „Die, die das Sagen haben, hatten keine Lust mehr, sie von A nach B zu bringen. Sie sagten, sie wurde zur Belastung, mit Ihnen auf ihren Fersen, immer auf der Suche nach ihr. Sie wollen sie einfach plattmachen und ihre Leiche irgendwo abwerfen, damit Sie wissen, dass sie tot ist und somit aufhören, nach ihr zu suchen. Es tut mir so leid, Detective.“
„Erzähl weiter“, sagte Keri. Ihr Körper fühlte sich taub an und ihre Stimme klang, als käme sie von weit her, außerhalb ihrer selbst.
„Also ist es im Grunde eine Auktion. All die mit Kohle bieten auf sie. Das läuft manchmal in die Hunderttausende. Diese Typen überbieten einander. Außerdem geht es darum, indem sie ihr wehtun, tun sie auch Ihnen weh. Das treibt den Preis hoch. Und ich glaube, die sind alle angetörnt davon, wie diese Sache endet.“
„Erinnere mich nochmal an diesen Teil“, bat Keri, die Augen fest geschlossen gegen das, was da noch kommen sollte. Sie spürte Susans Zögern, aber sie wollte sie nicht weiter bearbeiten, sondern ließ dem Mädchen Zeit, sich zu sammeln um sagen zu können, was gesagt werden musste. Ray rückte auf dem Sofa etwas dichter an sie heran, und nahm dabei seinen Arm von ihrem Rücken und legte ihn um ihre Schultern.
„Wer auch immer die Auktion gewinnt, wird in einen separaten Raum gebracht, während der Blutpreis in Stellung gebracht wird. Sie wird gebadet und in ein schickes Kleid gesteckt. Jemand kümmert sich um ihr Makeup wie bei einem Filmstar. Dann wird sie in einen Raum gebracht, wo der Typ mit ihr machen kann, was er will. Es gibt nur eine Regel: er darf ihr keine sichtbaren Wunden im Gesicht zufügen.“
Keri bemerkte, wie kalt Susans Stimme geworden war, als habe sie diesen Teil ihrer Gefühle abgestellt, damit sie dies beenden konnte. Keri konnte es ihr nicht verdenken. Das Mädchen erzählte weiter.
„Ich meine, er kann ihr etwas antun. Er darf sie nur nicht oberhalb des Halses schlagen. Sie muss gut aussehen für das große Event später. Keinem macht es etwas aus, wenn ihre Wimperntusche zerlaufen ist, weil sie geweint hat. Das kommt gut für das Drama. Nur keine blauen Flecken.“
„Was passiert dann?“
„Der Typ muss kurz vor Mitternacht fertig sein, denn dann wird das letzte Opfer gebracht. Ihr wird ein frisches Kleid angezogen und sie wird festgeschnallt, damit sie sich nicht so wehren kann. Die mögen das. Aber nur in Maßen.“
Keri konnte spüren, wie Ray sich neben ihr versteifte, obwohl ihre Augen geschlossen waren. Er schien den Atem anzuhalten. Sie merkte, dass sie das gleiche tat und zwang sich, auszuatmen, als sie hörte, wie Susan schwer schluckte.
„Der Typ zieht sich eine schwarze Robe mit Kapuze an, um seine Identität zu verschleiern“, fuhr sie fort. „Der Grund dafür ist, dass alles per TV ins Nebenzimmer übertragen wird, wo alle anderen sind. Ich glaube, es wird auch aufgenommen. Logischerweise will keiner dieser Typen Videomaterial von sich selbst, wie sie einen Teenager ermorden.
Wenn beide hergerichtet sind, kommt der Typ rein und stellt sich hinter sie. Er sagt etwas auswendig gelerntes, ich weiß nicht, was. Dann wird ihm ein Messer gereicht, und genau um Mitternacht schlitzt er ihre Kehle auf. Sie stirbt, genau dort vor der Kamera. Alle rezitieren etwas. Dann wird der Fernseher ausgemacht und die Party geht weiter. Das war’s im Großen und Ganzen.“
Schließlich öffnete Keri ihre Augen. Sie fühlte eine Träne ihre Wange hinunter laufen, wollte sie aber nicht abwischen. Sie mochte das Gefühl, wie die Träne fast ihre Haut verbrannte, wie eine nasse Flamme.
Solange sie die Flamme des gerechten Zorns in ihrem Herzen brannte, solange war sie sicher, dass sie auch Evie am Leben erhalten konnte.
KAPITEL ZWEI
Lange sprach niemand. Keri meinte, es nicht zu können. Stattdessen ließ sie sich durch die immer größer werdende Woge der Wut erfüllen; ihr Blut kochte; ihre Finger kribbelten.
Schließlich räusperte sich Ray.
„Susan, ich bin Detective Lockes Partner, Ray Sands. Darf ich dir eine Frage stellen?“
„Natürlich, Detective.“
„Woher weißt du das alles? Ich meine, warst du auf einer dieser Partys dabei?“
„Wie ich Detective Locke schon gesagt habe, ich bin einmal auf eine Hill House Party mitgenommen worden, als ich elf war. Ich bin nie wieder dagewesen, aber ich kenne die Mädchen, die nochmal da waren. Eine meiner Freundinnen wurde zweimal dorthin gebracht. Sie können sich vorstellen, wie die Buschtrommeln funktionieren. Jedes Mädchen, das mitten drin steckt in LA, weiß Bescheid über die Vista. Es ist schon fast eine Legende. Zuhälter machen sie diese Legende zunutze, um Druck auf ihre Pferdchen auszuüben. ‚Wenn du rum zickst, könntest du der diesjährige Blutpreis werden.‘ Nur, dass die Legende tatsächlich wahr ist.“
Etwas in Susans Tonfall – eine Mischung aus Angst und Traurigkeit – riss Keri aus ihrer Schweigsamkeit. Dieses Mädchen hatte soviel Fortschritte gemacht in den letzten Monaten. Keri fürchtete, das Mädchen zu bitten, zurückzukehren in die dunklen Ecken ihres Lebens, und sei es auch nur gedanklich, könnte unfair und fies sein. Susan hatte alles erzählt, auf Kosten ihres eigenen Wohlbefindens. Es wurde Zeit, sie wieder Kind sein zu lassen.
Nun mussten die Erwachsenen das Ruder übernehmen.
„Susan“,