"Danke!", lachte Lucy. "Ich fühle mich schon besser."
Riley holsterte ihre Simulationswaffe und hob das falsche Sturmgewehr auf. Sie erinnerte sich an den intensiven Rückstoß, den sie bei der Feuerung der Waffen gespürt hatte. Und das nicht existierende, verlassene Gebäude war erstaunlich lebendig und detailliert gewesen.
Trotzdem fühlte Riley sich seltsam leer und unzufrieden.
Aber das lag nicht an Bill oder Lucy. Und sie war dankbar, dass sich beide an diesem Morgen Zeit genommen hatten, um sich ihr anzuschließen.
"Danke, dass ihr mitgemacht habt", sagte sie. "Ich nehme an, ich musste ein wenig Dampf ablassen."
"Fühlst du dich besser?", fragte Lucy.
"Ja", sagte Riley.
Es stimmte nicht, aber eine kleine Lüge konnte nicht schaden.
"Wie wäre es, wenn wir einen Kaffee trinken gehen?", fragte Bill.
"Klingt gut!", sagte Lucy.
Riley schüttelte den Kopf.
"Nicht heute, danke. Ein andermal gerne. Geht ruhig, ihr zwei."
Bill und Lucy verließen den großen VR Raum. Riley, fragte sich, ob sie vielleicht doch mit ihnen mitgehen sollte.
Nein, ich wäre keine angenehme Gesellschaft, dachte sie.
Ryans Worte hallten wieder durch ihren Kopf.
"Riley, Jilly war deine Entscheidung."
Ryan hatte Nerven, der armen Jilly den Rücken zuzuwenden.
Aber Riley war jetzt nicht wütend. Stattdessen spürte sie eine tiefe Traurigkeit.
Aber warum?
Langsam wurde ihr klar:
Nichts davon ist real.
Mein ganzes Leben, alles ist ein Schwindel.
Ihre Hoffnungen mit Ryan und den Kindern wieder eine Familie zu sein, waren eine Illusion.
Genau wie diese verdammte Simulation.
Sie fiel auf die Knie und fing an zu weinen.
Es dauerte einige Minuten, bis Riley sich zusammenreißen konnte. Dankbar, dass niemand ihren Zusammenbruch gesehen hatte, stand sie auf und ging zurück zu ihrem Büro. Sobald sie durch die Tür trat, fing ihr Telefon an zu klingeln.
Sie wusste, wer anrief.
Sie hatte den Anruf erwartet.
Und sie wusste, dass die Unterhaltung nicht einfach werden würde.
KAPITEL FÜNF
"Hallo, Riley", meldete sich eine weibliche Stimme, als Riley abnahm.
Es war eine nette Stimme – ein wenig altersschwach und zitternd, aber freundlich.
"Hallo, Paula", sagte Riley. "Wie geht es Ihnen?"
Der Anrufer seufzte.
"Nun ja, Sie wissen – heute ist es immer schwer."
Riley verstand. Paulas Tochter, Tilda, war vor fünfundzwanzig Jahren an diesem Tag ermordet worden.
"Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich anrufe", sagte Paula.
"Natürlich nicht, Paula", versicherte Riley ihr.
Schließlich hatte Riley ihre recht seltsame Verbindung vor Jahren begonnen. Riley hatte nie aktiv an dem Fall von Tildas Mord gearbeitet. Sie hatte sich mit der Mutter des Opfers in Verbindung gesetzt, lange nachdem der Fall als ungelöst zu den Akten gelegt worden war.
Dieser jährliche Anruf zwischen ihnen, war seit Jahren eine Art Ritual.
Riley fand es noch immer eigenartig eine Unterhaltung mit jemandem zu führen, den sie nie getroffen hatte. Sie wusste nicht einmal, wie Paula aussah. Sie wusste, dass Paula mittlerweile achtundsechzig Jahre alt war. Sie war dreiundvierzig gewesen, nur drei Jahre älter als Riley, als ihre Tochter ermordet wurde. Riley stellte sie sich als freundliche, grauhaarige, großmütterliche Figur vor.
"Wie geht es Justin?", fragte Riley.
Riley hatte ein paar Mal mit Paulas Mann gesprochen, ihn aber nie besser kennen gelernt.
Paula seufzte wieder.
"Er ist im letzten Sommer gestorben."
"Das tut mir leid", sagte Riley. "Wie ist es passiert?"
"Es war plötzlich, vollkommen unerwartet. Ein Aneurysma – oder vielleicht ein Herzanfall. Sie haben angeboten eine Autopsie durchzuführen, um es herauszufinden. Ich habe gesagt, 'Warum die Mühe machen?' Es hätte ihn nicht zurückgebracht."
Riley fühlte mit der Frau. Sie wusste, dass Tilda ihre einzige Tochter gewesen war. Der Verlust ihres Mannes konnte nicht leicht sein.
"Wie kommen Sie klar?", fragte Riley.
"Ich leben einen Tag nach dem anderen", sagte Paula. "Es ist einsam hier."
Eine Spur fast unerträglicher Traurigkeit lag in ihrer Stimme, als wäre sie bereit, sich ihrem Mann im Tod anzuschließen.
Riley konnte sich ihre Einsamkeit nicht vorstellen. Sie spürte Dankbarkeit für die Menschen in ihrem Leben – April, Gabriela und jetzt auch Jilly. Riley hatte oft mit der Angst zu kämpfen, sie alle zu verlieren. April war mehr als einmal in Gefahr gewesen.
Und natürlich waren da noch wundervolle alte Freunde, wie Bill. Er hatte ebenfalls seinen Anteil an riskanten Situationen und Gefahren durchlebt.
Ich werde sie nie als selbstverständlich hinnehmen, dachte sie.
"Und wie geht es Ihnen, meine Liebe?", fragte Paula.
Vielleicht hatte Riley deshalb das Gefühl, dass sie mit Paula über Dinge reden konnte, die sie sonst mit kaum jemandem besprach.
"Nun ja, ich bin gerade dabei, ein dreizehnjähriges Mädchen zu adoptieren. Das ist ein richtiges Abenteuer. Oh, und Ryan war für eine Weile zurück. Dann ist er wieder abgehauen. Etwas niedlicheres, Jüngeres ist im ins Auge gefallen."
"Wie fürchterlich für Sie!", sagte Paula. "Ich hatte Glück mit Justin. Er ist nie fremdgegangen. Und ich nehme an, auf lange Sicht gesehen hatte er auch Glück. Er ist schnell gegangen, keine Schmerzen, kein Leiden. Ich hoffe, wenn meine Zeit kommt …"
Paulas Stimme verlor sich.
Riley schauderte.
Paula hatte ihre Tochter an einen Mörder verloren, der niemals seine gerechte Strafe erhalten hatte.
Riley hatte ebenfalls jemanden an einen Mörder verloren, der nie gefasst wurde.
Sie sprach langsam.
"Paula … ich habe immer noch Flashbacks. Und Albträume."
Paula antwortete in einer freundlichen, tröstenden Stimme.
"Ich nehme an, das ist nicht überraschend. Sie waren noch so klein. Und Sie waren dabei, als es passiert ist. Mir wurde erspart, was Sie durchgemacht haben."
Riley stutzte bei ihren Worten.
Es erschien ihr nicht so, als wäre Paula etwas erspart geblieben.
Sicherlich, sie war nicht gezwungen gewesen zu sehen, wie ihre Tochter starb.
Aber das eigene Kind zu verlieren musste schlimmer sein als das, was Riley erlebt hatte.
Paulas Fähigkeit zu selbstlosem Mitgefühl erstaunte Riley immer wieder.
Paula sprach weiter in ihrer tröstenden Stimme.
"Trauer geht nie weg, denke ich. Vielleicht sollten wir das auch nicht wollen. Was würde aus uns werden, wenn ich Justin und Sie ihre Mutter vergessen würden? Ich will niemals so hart werden. Solange ich noch Schmerz und Trauer