"Ich gehe nicht nach Hause. Mein Vater wird mich schlagen, wenn ich zurückgehe."
Das Jugendamt in Phoenix hatte Jilly dem Sorgerecht des Vaters entzogen. Riley wusste, dass Jillys Mutter vor langer Zeit verschwunden war. Jilly hatte irgendwo einen Bruder, aber niemand hatte von ihm gehört.
Es brach Riley das Herz, als ihr klar wurde, dass sie eine ähnliche Behandlung in ihrem neuen Zuhause erwartete. Es schien, als könne sich das Mädchen kaum ein besseres Leben vorstellen.
"Niemand wird dich schlagen, Jilly", sagte Riley, mit leicht zitternder Stimme. "Nie wieder. Wir werden uns gut um dich kümmern. Verstehst du das?"
Wieder antwortete Jilly nicht. Riley wünschte sich, sie würde sagen, dass sie sie verstand und auch glaubte, was Riley ihr sagte. Stattdessen wechselte Jilly das Thema.
"Ich mag dein Auto", sagte sie. "Kann ich lernen zu fahren?"
"Wenn du älter bist, sicher", sagte Riley. "Jetzt lass uns dich erst einmal nach Hause bringen."
*
Ein wenig Schnee fiel, als Riley vor ihrem Stadthaus hielt und sie mit Jilly ausstieg. Jillys Gesicht zuckte kurz, als eine Schneeflocke ihre Haut traf. Ihr schien dieses neue Gefühl nicht zu gefallen. Sie zitterte vor Kälte.
Wir müssen ihr sofort warme Kleidung besorgen, dachte Riley.
Auf halbem Wege zur Haustür hielt Jilly inne. Sie starrte auf das Haus.
"Ich kann das nicht", sagte sie.
"Warum nicht?"
Jilly schien keine Worte zu finden. Sie sah aus, wie ein verängstigtes Tier. Riley nahm an, dass der Gedanke sie überwältigte, an einem so schönen Ort zu leben.
"Ich werde April im Weg sein oder nicht?", sagte Jilly. "Ich meine, es ist ihr Badezimmer."
Sie schien nach Entschuldigen zu suchen, nach Gründen, warum es nicht funktionieren würde.
"Du bist April nicht im Weg", sagte Riley. "Jetzt komm rein."
Riley öffnete die Tür. Drinnen warteten April und Rileys Exmann Ryan. Sie lächelten sie freundlich an.
April eilte direkt auf Jilly zu und nahm sie in die Arme.
"Ich bin April", sagte sie. "Ich bin so froh, dass du hier bist. Es wird dir bestimmt gefallen."
Riley war von dem Unterschied zwischen den beiden Mädchen überrascht. Sie hatte immer gedacht, April wäre recht dünn und schlaksig. Aber neben Jilly, die im Vergleich dünn aussah, wirkte sie regelrecht robust. Riley nahm an, dass Jilly mehr als einmal in ihrem Leben gehungert hatte.
Es gibt so viel, was ich nicht weiß, dachte Riley.
Jilly lächelte nervös, als Ryan sich vorstellte und sie kurz umarmte.
Plötzlich kam Gabriela herein und stellte sich ebenfalls mit einem breiten Lächeln vor.
"Willkommen in der Familie!", rief Gabriela und gab Jilly eine Umarmung.
Riley bemerkte, dass die Haut der guatemalischen Frau nur ein wenig dunkler war, als Jillys olivfarbener Teint.
"Vente!", sagte Gabriela und nahm Jilly bei der Hand. "Lass uns nach oben gehen. Ich zeige dir dein Zimmer!"
Aber Jilly zog ihr die Hand weg und stand zitternd vor ihr. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie setzte sich auf die Stufen und weinte. April setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.
"Jilly, was ist los?", fragte April.
Jilly schüttelte traurig den Kopf.
"Ich weiß es nicht", schluchzte sie. "Es ist einfach … ich weiß nicht. Es ist zu viel."
April lächelte und streichelte ihr leicht über den Rücken.
"Ich weiß, ich weiß", sagte sie. "Komm mit nach oben. Du fühlst dich bestimmt bald wie zu Hause."
Jilly stand gehorsam auf und folgte April nach oben. Riley freute sich, dass ihre Tochter die Situation so gut gelöst hatte. Natürlich hatte April immer gesagt, dass sie eine kleine Schwester wollte. Aber April hatte schwierige Jahre durchgemacht und war von Verbrechern traumatisiert worden, die sich an Riley rächen wollten.
Vielleicht, dachte Riley hoffnungsvoll, versteht April Jilly besser, als ich es kann.
Gabriela sah den beiden Mädchen mitfühlend nach.
"¡Pobrecita!", sagte sie. "Ich hoffe, dass alles gut wird."
Gabriela ging wieder nach unten und ließ Riley und Ryan alleine. Ryan blickte geistesabwesend die Stufen nach oben.
Ich hoffe, dass er es sich nicht anders überlegt hat, dachte Riley. Ich werde seine Unterstützung brauchen.
Zwischen ihnen war viel passiert. Während der letzten Jahre ihrer Ehe war er ein untreuer Ehemann und ein distanzierter Vater gewesen. Sie hatten sich getrennt und geschieden. Aber Ryan schien sich in letzter Zeit verändert zu haben und sie verbrachten wieder mehr Zeit miteinander.
Sie hatten über die Herausforderung gesprochen, Jilly in ihre Leben zu bringen. Ryan war begeistert von der Idee gewesen.
"Ist es immer noch okay für dich?", fragte Riley ihn.
Ryan sah sie an und sagte, "Ja. Ich kann allerdings sehen, dass es nicht einfach werden wird."
Riley nickte. Dann folgte eine peinliche Pause.
"Ich denke, ich sollte besser gehen", sagte Ryan.
Riley war erleichtert. Sie küsste ihn flüchtig, er zog seinen Mantel an und ging. Riley goss sich einen Drink ein und saß dann alleine im Wohnzimmer.
Wo habe ich uns da nur hingeführt? fragte sie sich.
Sie hoffte, dass ihre guten Absichten nicht wieder ihre Familie auseinander reißen würde.
KAPITEL ZWEI
Riley wachte am nächsten Morgen mit ängstlicher Erwartung auf. Dies würde der erste Tag von Jilly in ihrem neuen Zuhause werden. Sie hatten viel zu tun und Riley hoffte, dass es keine Probleme geben würde.
Letzte Nacht war ihr klar geworden, dass Jillys Übergang in ein neues Leben harte Arbeit für sie alle werden würde. Aber April hatte sich eingebracht und Jilly geholfen, sich einzuleben. Sie hatten zusammen ausgesucht, was Jilly heute anziehen würde – nicht aus der mageren Auswahl, die sie in einer Supermarkttüte mitgebracht hatte, sondern von den neuen Sachen, die Riley und April ihr gekauft hatten.
Jilly und April waren schließlich schlafen gegangen.
Riley auch, aber ihr Schlaf war unruhig und rastlos gewesen.
Jetzt stand sie auf, zog sich an, und ging direkt in die Küche, wo April Gabriela half, Frühstück zu machen.
"Wo ist Jilly?", fragte Riley.
"Sie ist noch nicht aufgestanden", sagte April.
Rileys Sorge nahm zu.
Sie ging zum Aufgang der Treppe und rief, "Jilly, es ist Zeit aufzustehen."
Sie hörte keine Antwort. Sie wurde von einer Welle der Panik gefasst. War Jilly in der Nacht weggelaufen?
"Jilly, hast du mich gehört?", rief sie wieder. "Wir müssen dich heute Morgen für die Schule anmelden."
"Ich komme", rief Jilly zurück.
Riley atmete erleichtert auf. Jilly klang mürrisch, aber zumindest war sie hier und kooperierte.
In den vergangenen Jahren hatte Riley diesen Ton mehr als einmal von April gehört. April schien es im Großen und Ganzen hinter sich zu haben, fiel aber von Zeit zu Zeit zurück. Riley fragte sich, ob sie wirklich