Das tat es wohl. Doch wo sie jetzt ein spätes Kapitel ihres Lebens begann, war es trotz allem sehr schwer zuzugeben, dass noch etwas im Leben neben ihrer Arbeit wichtig war. Das war vor allem dann schwer zuzugeben, wenn sie auf der Spur eines Killers war und wusste, dass er jederzeit wieder zuschlagen konnte.
KAPITEL SECHS
Kate und DeMarco wurde ein kleiner Konferenzraum im hinteren Teil der City of Roanoke Polizeiwache zur Verfügung gestellt. Nachdem sie dort ankamen, führte eine kleine, beleibte Frau sie durch das Gebäude zu dem Raum. Sobald sie sich gesetzt und angefangen hatten, sich einen Arbeitsbereich einzurichten, klopfte es an der Tür.
„Herein“, sagte Kate.
Als sich die Tür öffnete, sah sie ein bekanntes Gesicht – Palmetto vom State Police Department, der leicht versteifte Mann, der sie vor dem Haus der Nashes früher am Tage empfangen hatte.
„Als ich mich um den Papierkram gekümmert habe, sah ich, dass Sie hier sind“, sagte Palmetto. „In ein paar Stunden fahre ich wieder nach Chesterfield. Dachte mir, ich gucke nochmal vorbei um zu sehen, ob ich Ihnen noch behilflich sein kann.“
„Nichts gravierendes“, sagte Kate. „Wussten Sie, dass auch im Rachen von Bethany Langley ein Fetzen desselben Stoffes gefunden wurde?“
„Nicht bis vor einer halben Stunde. Eine von Ihnen hat anscheinend im Labor angerufen und darum gebeten, ein Foto geschickt zu bekommen.“
„Richtig“, sagte DeMarco. „Und wie es scheint, handelt es sich um den gleichen Fetzen wie der, den Sie uns gegeben haben.“
Bei Erwähnung des Stofffetzens legte Kate das Plastiktütchen, das Palmetto ihr gegeben hatte, auf den Tisch. „Im Moment ist das der einzige konkrete Hinweis, der die beiden Doppelmorde verbindet.“
„Und die Gerichtsmedizin hat quasi keine Spuren an diesem Stoffetzen sichern können“, meinte Palmetto. „Abgesehen von Mrs. Nashs DNA.“
„Der Bericht zu den Langleys, den ich hier habe, gibt auch keinerlei Aufschluss.“
„Trotzdem ist es vielleicht einen Besuch in der Gerichtsmedizin wert“, sagte Kate.
„Dann mal viel Glück“, sagte Palmetto. „Als ich sie dort auf den Fall Nash angesprochen habe, hatten sie keine Ahnung.“
„Waren Sie in irgendeiner Weise in den Fall der Langleys involviert?“, wollte Kate wissen.
„Nein. Ich bin dazugekommen, direkt nachdem es passiert war. Ich habe die Leichen gesehen und den Tatort untersucht, aber da war nichts. Wenn Sie mit dem Gerichtsmediziner sprechen, fragen Sie ihn aber nach dem einzelnen Haar, das auf der sauberen Wäsche gefunden wurde. Es schien nicht von Mrs. Langley zu stammen, deshalb wird es gerade untersucht.“
„Bevor Sie gehen“, sagte Kate, „haben Sie irgendwelche Theorien, die Sie mit uns teilen wollen?“
„Ich habe keine“, sagte Palmetto trocken. „Ich habe alle Details abgeklopft, aber wie es scheint, gibt es überhaupt keine Verbindung zwischen den Nashs und den Langleys. Allerdings, der Stofffetzen im Rachen… etwas für den Killer so Spezielles und Persönliches muss sie doch verbinden, oder?“
„Das ist genau, was ich denke“, sagte Kate.
Er legte die Hand an die Tür, und nun sah Kate ihn zum ersten Mal lächeln. „Ich bin mir sicher, Sie werden es herausfinden. Ich habe von Ihnen gehört, wissen Sie? Viele von uns hier beim State Police Department haben das.“
„Da bin ich mir sicher“, sagte sie und verzog das Gesicht.
„Fast nur Gutes. Und dann haben Sie sich vor ein paar Monaten von ihrer Rente verabschiedet, um jemanden zur Strecke zu bringen, richtig?“
„So könnte man das sagen.“
Palmetto, dem klar war, dass Kate nicht einfach nur dasitzen und in Lob baden würde, zuckte die Schultern. „Rufen Sie die Jungs bei der State Police an, falls Sie irgendetwas benötigen, Agent Wise.“
„Das werde ich tun“, sagte sie, als Palmetto sich verabschiedete.
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, schüttelte DeMarco spielerisch den Kopf. „Hast du jemals genug davon, dass die Leute dich loben?“
„Ja, schon“, entgegnete Kate, ohne dass es selbstgefällig klang. Während es natürlich ein erhebendes Gefühl war, an das erinnert zu werden, was sie während ihrer Karriere geleistet hatte, so wusste sie doch tief im Innern, dass sie immer nur ihren Job gemacht hatte. Vielleicht hatte sie ihren Job mit mehr Hingabe erledigt als andere, aber es war eben doch nur naja – ein gut erledigter Job… ein Job, den sie scheinbar nicht hinter sich lassen konnte.
Innerhalb weniger Minuten und mit der Hilfe des Systemadministrators der Wache hatten Kate und DeMarco schnell Zugriff auf die Datenbank des Police Departments. Sie arbeiteten zusammen und gingen die Vergangenheiten sowohl der Nashs als auch der Langleys durch. Keine der Familien war kriminell aufgefallen. Tatsächlich war es schwer vorstellbar bei beiden Familien, dass sie sich jemanden zum Feind gemacht hatten. Die Langleys waren für einige Jahre ihres Lebens Pflegeeltern gewesen. Sie waren sehr engagiert gewesen in ihrer Kirche und über die letzten zwanzig Jahre auf vielen Missionen gewesen, vor allem in Nepal und in Honduras.
Nach einer Weile gab Kate auf und lief im Raum umher. Sie benutzte das Whiteboard im Konferenzraum, um Notizen aufzuschreiben, in der Hoffnung, etwas Schriftliches zu sehen würde ihr helfen, sich zu konzentrieren. Aber das war nicht der Fall. Keine Verbindung, keine Spuren, keine konkrete Richtung, wie sie weiter verfahren sollten.
„Du auch, was?“, fragte DeMarco. „Nichts?“
„Bisher nicht. Ich glaube, wir sollten uns an das halten, was wir haben, statt versuchen Neues zu finden. Ich glaube, wir müssen die Stofffetzen noch einmal aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Zwar hat das Labor nichts Aufschlussreiches entdeckt, aber vielleicht weist uns der Stoff an sich in eine bestimmte Richtung.“
„Ich kann dir nicht folgen“, meinte DeMarco.
„Das ist schon in Ordnung“, entgegnete Kate. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir selbst überhaupt folgen kann. Aber vielleicht wissen wir, was wir suchen, wenn wir es sehen.“
***
Als Kate die Müdigkeit zum ersten Mal richtig spürte, fuhr sie gerade mit DeMarco von der Polizeiwache zur Gerichtsmedizin. Es erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie seit siebenundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte, und wie irre früh ihr Arbeitstag begonnen hatte. Vor zwanzig Jahren hätte ihr das nichts ausgemacht. Aber mit ihren sechsundfünfzig Jahren lagen die Dinge inzwischen nunmal anders.
Die Fahrt zur Gerichtsmedizin dauerte nur fünf Minuten. Sie befand sich inmitten eines kleinen Netzwerkes an Gebäuden, bestehend aus der Polizeiwache, dem Gericht und dem Gefängnis. Nachdem sie sich ausgewiesen hatten, wurde sie am Fronttresen des Gerichtsmedizinisch-wissenschaftlichen Labors vorbei in das zentrale Labor geführt. Sie wurden gebeten, vorerst in der kleinen Lobby Platz zu nehmen, während der Techniker, der die Stofffetzen untersucht hatte, ausgerufen wurde.
„Glaubst du, dass der Stoff nur so eine Art Visitenkarte für den Killer ist?“
„Könnte sein. Hat vielleicht überhaupt nichts mit dem Warum des Falls zu tun. Vielleicht hat es für den Killer eine Bedeutung. So oder so, im Moment sieht es so aus, als seien die Stofffetzen – die, da bin ich mir sicher, von irgendeiner kuscheligen Decke stammen – unsere einzige echte Verbindung zu ihm.“
Dadurch