Gwen kniete für eine lange Zeit da, und hörte nichts außer dem endlosen Heulen des Windes durch die Kiefern des roten Waldes. Sie lauschte dem sanften rauschen der Zweige, wie sie sich hoch über ihrem Kopf im Wind wiegten, und ihre Nadeln ins Wasser fielen.
“Sei vorsichtig wofür du betest.”, hörte sie eine Stimme sagen.
Sie erschrak und fuhr herum. Sie sah jemanden nicht weit von ihr entfernt im Schatten der Bäume stehen. Sie hätte sich gefürchtet, doch sie erkannte die Stimme sofort. Eine uralte Stimme. Älter als die Bäume, älter als die Erde selbst. Und ihr Herz schwoll vor Freude als sie erkannte wer es war.
Sie wandte sich ihm zu und sah ihn vor sich stehen: In einen weißen Mantel mit Kapuze gehüllt, mit seinen hellen Augen, die durch sie hindurch direkt in ihre Seele zu blicken schienen. Er hielt seinen Stab und schien im Licht der letzten Sonne und des aufgehenden Mondes zu leuchten.
Argon.
Sie stand auf und ging auf ihn zu.
„Ich habe dich gesucht.“, sagte sie. „Ich war bei deiner Hütte. Hast du mich nicht anklopfen gehört?“
„Ich höre alles.“, antwortete er kryptisch.
Sie hielt inne und wunderte sich. Er blieb ausdruckslos.
„Sag mit, was ich tun muss“, sagte sie. “Ich bin bereit alles zu tun. Vollkommen egal was. Bitte lass Thor nicht sterben. Du kannst ihn nicht sterben lassen!”
Gwen tat einen Schritt auf ihn zu und griff flehend nach seiner Hand. Aber als sie ihn berührte, durchfuhr sie eine brennende Hitze, die von seiner Hand ausging und in ihre strömte und zuckte zurück, überwältigt von seiner Kraft.
Argon seufzte, wandte sich von ihr ab, und ging einige Schritte in Richtung des Sees. Er stand da und schaute aufs Wasser. Seine Augen reflektierten das Licht.
Sie stellte sich neben ihn und wusste nicht wie lange sie stumm dastanden, bis er bereit war, zu sprechen.
„Es ist nicht unmöglich das Schicksal zu ändern“, sagte er. „Doch es fordert einen hohen Preis von dem, der es zu ändern wünscht. Du möchtest ein Leben retten. Das ist ein nobles Bestreben. Doch du kannst nicht zwei Leben retten. Du wirst eine Wahl treffen müssen.”
Er sah sie an.
“Wünschst du, dass Thor diese Nacht überlebt oder dein Bruder? Einer von ihnen muss sterben. So steht es geschrieben.”
Gwen war entsetzt.
“Was für eine Wahl ist das?“, fragte sie. „Indem ich den Einen rette, verurteile ich den Anderen zum Tod.“
„Das tust du nicht.“, antwortete er. „Es ist beiden bestimmt zu sterben. Es tut mir leid. Doch das ist ihr Schicksal.”
Gwen fühlte sich, als hätte jemand ihr einen Dolch in die Eingeweide gerammt. Beide sollten sterben? Es war zu schrecklich, um es sich vorstellen zu können. Konnte das Schicksal wirklich so grausam sein?
“Ich kann nicht den Einen über den Anderen wählen.“, sagte sie schließlich mit schwacher Stimme. „Meine Liebe für Thor ist natürlich stärker. Aber Godfrey ist mein eigen Fleisch und Blut. Ich kann nicht ertragen, dass einer auf Kosten des Anderen leben soll. Und ich glaube nicht dass einer von ihnen das will.“
„Dann werden beide sterben.“, entgegnete Agron.
Gwen fühlte sich von Panik überwältigt.
„Warte!“, rief sie, als er sich von ihr abwenden wollte.
Er drehte sich wieder zu ihr um und sah sie fragend an.
„Was ist mit mir?“, fragte sie. „Was, wenn ich an ihrer Stelle sterbe? Ist das möglich? Könnten dann beide leben?“
Argon blickte sie eine Weile lang an, als ob er ihr tief ins Herz schauen wollte.
„Dein Herz ist rein.“ Sagte er. “Du hast von allen MacGils das reinste Herz. Dein Vater hat eine weise Wahl getroffen. Ja das hat er...“
Argon verstummte und er schaute ihr weiter tief in die Augen. Gwen fühlte sich unwohl, wagte aber nicht, den Blick abzuwenden.
„Aufgrund deiner Wahl, deiner Opferbereitschaft in dieser Nacht“, sagte Argon „hat das Schicksal dich erhört. Thor wird Leben. Und auch dein Bruder. Und auch du sollst leben. Doch einen kleinen Teil deines Lebens musst du geben. Denke daran, es gibt immer einen Preis. Ein Teil von dir wird sterben, damit beide leben können.“
“Was soll das heißen?”, fragte sie, starr vor Angst.
„Alles hat seinen Preis.“, antwortete er. „Du hast die Wahl. Willst du ihn lieber nicht bezahlen?“
Gwen wappnete sich für das, was nun kommen sollte.
“Ich würde alles für Thor tun.”, sagte sie. „Und für meine Familie.“
Argon sah durch sie hindurch.
„Thor erwartet ein großes Schicksal.“, sagte Argon. „Aber das Schicksal kann sich ändern. Unser Schicksal liegt in unseren Sternen. Aber es wird auch von Gott gelenkt. Gott kann das Schicksal ändern. Thor sollte heute Nacht sterben. Dank dir wird er leben. Doch du musst den Preis dafür zahlen. Und der ist hoch.”
Gwen wollte mehr wissen und streckte ihre Hand nach Argon aus. Doch noch bevor sie seine Hand berühren konnte, blitzte ein grelles Licht auf und Argon war verschwunden.
Gwen fuhr herum und blickte in alle Richtungen, doch er war verschwunden.
Sie wandte sich schließlich wieder dem See zu, der immer noch so ruhig dalag, als wäre dies eine Nacht wie jede andere. Sie sah ihr Spiegelbild und es erschien ihr unendlich weit entfernt. Sie war erfüllt mit Dankbarkeit, und endlich auch einem Gefühl des Friedens. Doch sie hatte auch Angst um ihre eigene Zukunft. So sehr sie auch versuchte, den Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, so brennend wollte sie es wissen: Welchen Preis würde sie für Thors Leben bezahlen müssen?
KAPITEL ACHT
Thor lag inmitten des Schlachtfeldes und wurde von McCloud’s Kriegern zu Boden gedrückt, hilflos. Er konnte das Klirren der Schwerter hören, das Wiehern der Pferde, die Schreie sterbender Männer um ihn herum. Die untergehende Sonne und der aufgehende Mond – ein Vollmond, voller als jeder Vollmond, den er in seinem Leben jemals gesehen hatte – wurden plötzlich von einem riesigen Soldaten verdeckt, der mit erhobenem Dreizack auf ihn zutrat. Thor wusste, dass seine Zeit gekommen war.
Er schloss die Augen, um sich auf den Tod vorzubereiten. Er fühlte keine Angst. Nur Reue. Er wollte mehr Zeit zu leben; er wollte herausfinden, wer er war, welches Schicksal ihm bestimmt war, und vor allem wollte er mehr Zeit mit Gwen.
Thor hatte das Gefühl, dass es einfach nicht fair war, auf diese Weise zu sterben. Nicht auf diese Weise. Nicht an diesem Tag. Es war noch nicht seine Zeit, und er konnte es fühlen. Er war noch nicht bereit zu gehen.
Auf einmal spürte Thor etwas in sich aufsteigen: eine Wildheit, eine Stärke, anders als alles, was er bisher gekannt hatte. Sein ganzer Körper prickelte und wurde heiß, als ihn ein neues Gefühl durchströmte. Von den Sohlen seiner Füße hinauf durch seine Beine, seinen Rumpf und seine Arme hindurch bis in die Fingerspitzen. Er brannte von einer Energie, die er sich nicht erklären konnte. Thor erschrak vor seinem eigen wilden Gebrüll, das klang, als wollte ein Drache aus den Tiefen der Erde emporsteigen.
Er spürte die Kraft von zehn Männern durch seinen Körper pulsieren, als er sich aus dem Griff der feindlichen Krieger befreite und auf die Füße sprang.
Noch