In der katholischen Liturgie ist das Confiteor das reinigende Schuldbekenntnis, das der Priester zu Beginn der Messfeier an den Stufen des Altars ablegt62. Baudelaire liebt es, in seinen Gedichten religiöse Redeformen aufzugreifen, etwa den Hymnus als Lob- und Preisgesang des Künstlers auf die Gottheit in Hymne à la Beauté oder die Offenbarungsrede der Gottheit selbst in La Beauté (Fleurs du mal XXI bzw. XVII). Mit dem Titel Le Confiteor de l’artiste präsentiert er sein Prosagedicht als eine Variante des liturgischen Schuldbekenntnisses, was zwangsläufig die Frage nach der Schuld aufwirft, die sein dichterisches Ich bekennen soll. Ist es das Scheitern der Ekstase oder das Scheitern des künstlerischen Ausdrucks derselben, ist es ein Sich-Verlieren an die „Formlosigkeit“ des Naturschönen oder, im Gegenteil, dessen nur ästhetische Würdigung, wie man angenommen hat63? Die Antwort, die der Text auf die Frage gibt, kann nur lauten, dass es die Versuchung durch die unbewegte, mitleidlose Natur und ihr verführerisches Schönes ist64. Demnach wäre der Dienst am Naturschönen die Verfehlung, von der das Ich sich durch sein Schuldbekenntnis reinigen will. Der Dienst am Schönen selbst stünde außer Frage, da das Ich, der Vorgabe des liturgischen Confiteor folgend, seine weitere Bereitschaft zu diesem bekundet65. Tatsächlich ist das wahre Schöne für Baudelaire, wie man weiß, das artifizielle Schöne, das vom Menschen gemacht und gedacht ist66, wozu noch das menschliche Schöne kommt. Das wird im Gedicht zwar nicht explizit gesagt, ist aber seiner Stellung zu entnehmen. Denn wie man von den Fleurs du mal und ihrer „architecture secrète“ weiß, hat Baudelaire seine Gedichte sehr bewusst angeordnet67. Le Confiteor de l’artiste am Anfang des Spleen de Paris68, der vom Großstadtschönen handelt, ist daher eine feierliche Absage an das Naturschöne und eine Einstimmung des Lesers auf die bevorstehende Feier des menschlichen Schönen in der Großstadt. Diesen programmatischen Wechsel bestätigt der Blick auf den Schönheitsbegriff Baudelaires.
b) Baudelaires Vorstellung vom Schönen
Im Peintre de la vie moderne hat Baudelaire eine viel zitierte Definition des Schönen gegeben1. Seiner „théorie rationnelle et historique du beau“ zufolge hat das Schöne einen unveränderlichen ewigen und einen vergänglichen, von den Umständen abhängigen zeitgemäßen Teil. Ohne den zeitgemäßen Teil wäre der ewige Teil dem Menschen nicht zugänglich:
Le beau est fait d’un élément éternel, invariable, dont la quantité est excessivement difficile à déterminer, et d’un élément relatif, circonstantiel, qui sera, si l’on veut, tour à tour ou tout ensemble, l’époque, la mode, la morale, la passion. Sans ce second élément, qui est comme l’enveloppe amusante, titillante, apéritive, du divin gâteau, le premier élément serait indigestible, inappréciable, non adapté et non approprié à la nature humaine. (S. 685)
Der veränderliche Teil des Schönen ist die „modernité“:
La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable.2
Die „modernité“ zu entdecken ist mühsam, aber notwendig, wenn eine Epoche zu ihrer eigenen Kunst finden will:
[…] pour que toute modernité soit digne de devenir antiquité, il faut que la beauté mystérieuse que la vie humaine y met involontairement en ait été extraite.3
Die Vorstellung eines zeitgemäßen ‚modernen‘ Schönen hat Baudelaire schon im Salon de 1846 vertreten. In dessen Schlusskapitel, das den Titel „De l’héroïsme de la vie moderne“ trägt, nennt er den vergänglichen Teil des Schönen die „beauté particulière“, die aus den jeweiligen „passions“ einer Epoche resultiere, und folgert: „comme nous avons nos passions particulières, nous avons notre beauté.“4 Als Beispiele für dieses Schöne der eigenen Zeit führt er dann Lebensformen und -gewohnheiten der Großstadt an wie den „suicide moderne“, das uniformierende und melancholische „habit noir“ der Gegenwart sowie generell „[l]e spectacle de la vie élégante et des milliers d’existences flottantes qui circulent dans les souterrains d’une grande ville, – criminels et filles entretenues […]“; im Besonderen hebt er den „Heroismus“ eines willensstarken Politikers und eines ebensolchen Mörders hervor5. Kurz, das Pariser Leben sei voller poetischer und wunderbarer Gegenstände, die freilich nicht erkannt würden:
La vie parisienne est féconde en sujets poétiques et merveilleux. Le merveilleux nous enveloppe et nous abreuve comme l’atmosphère; mais nous ne le voyons pas.6
Wenngleich dieses Urteil des Kunstkritikers Baudelaire primär für die im Salon von 1846 ausgestellte Malerei gilt, wirft es doch zugleich ein Licht auf die Überlegungen und Fragen, die den Dichter Baudelaire beschäftigten: Was ist in der Großstadt schön und darstellenswert? Welche sind die „passions nouvelles“ ihrer Menschen, welche ist die ihnen gemäße „beauté particulière“? Und welche sind die in der Großstadt möglichen „sujets privés“, die „bien autrement héroïques“ sind als die in der Malerei bis dahin bevorzugten „sujets publics et officiels“7? Seine Antwort, die sich in den ebenso provokativ wie ironisch vorgebrachten Beispielen8 abzeichnet, ist, dass das „Schöne“ in der Großstadt ein primär menschliches Schönes ist und dass es abseits jeder traditionellen Vorstellung in den vielfältigen Formen großstädtischen Lebens gesucht werden muss. Die Formel für diesen Befund lautet:
Il y a donc une beauté et un héroïsme moderne!
Ein knappes Jahrzehnt später geht Baudelaire das Problem des Schönen von einer anderen Seite an. Im Einleitungskapitel seines Berichts über die Pariser Weltkunstausstellung 1855 weist er darauf hin, dass das Schöne kosmopolitisch, vielfältig und vielgestaltig sei wie das Leben („multiforme et versicolore [et] se meut dans les spirales infinies de la vie“9). Wenn es sich in ein einheitliches System von Regeln fassen ließe, wie etwa der von Winckelmann begründete Neoklassizismus, so wäre es längst aus der Welt verschwunden, weil alle Ideen und Empfindungen in einer endlosen Gleichförmigkeit aufgehen würden und die Verschiedenartigkeit dahin wäre. Tatsächlich gebe es aber in allen Kunstäußerungen immer etwas Neues, das sich den Schulregeln entziehe. Diese Vielfalt („variété“) von Typen und Empfindungen verursache Staunen, das eines der großen Vergnügen sei, die Kunst und Literatur bereiten:
Tout le monde conçoit sans peine que, si les hommes chargés d’exprimer le beau se conformaient aux règles des professeurs-jurés, le beau lui-même disparaîtrait de la terre, puisque tous les types, toutes les idées, toutes les sensations se confondraient dans une vaste unité, monotone et impersonnelle, immense comme l’ennui et le néant. La variété, condition sine qua non de la vie, serait effacée de la vie. Tant il est vrai qu’il y a dans les productions multiples de l’art quelque chose de toujours nouveau qui échappera éternellement à la règle et aux analyses de l’école! L’étonnement, qui est une des grandes jouissances causées par l’art et la littérature, tient à cette variété même des types et des sensations. (S. 578)