Sie kam bald wieder nach oben, durchbrach die Oberfläche und nahm einen weiteren tiefen Atemzug, bevor sie wieder nach unten gezogen wurde. Jedes Mal war es anders, die Welle wurde schwächer und als sie wieder an die Oberfläche kam, fühlte sie, dass die Welle das Ende der Stadt erreichte und langsam auslief.
Diedre sah wie sie die Stadtgrenzen überquerte und an allen bedeutenden Gebäuden vorbeikam, die nun alle unter Wasser standen. Sie wurde wieder unter Wasser gezogen, diesmal jedoch langsam genug, dass sie unter Wasser die Augen öffnen und so die ganzen großen Gebäude unter sich sehen konnte, die einstmals die Stadt ausgemacht hatten. Sie sah dutzende von Körpern, wie Fische, im Wasser an ihr vorbeischwimmen. Körper, deren tote Ausdrücke sie bereits aus dem Gedächtnis zu löschen versuchte.
Schließlich, sie wusste nicht wieviel Zeit bereits vergangen war, kam Diedre wieder an die Oberfläche und dieses Mal endgültig. Sie war stark genug, gegen die letzte, schwache Welle zu kämpfen, die sie wieder nach unten ziehen wollte und mit einem letzten Tritt konnte sie sich an der Oberfläche halten. Das Wasser vom Hafen war zu weit ins Landesinnere gespült worden, es gab keinen Ort mehr an den es fließen konnte und Diedre spürte wie sie auf eine Weide geschleudert wurde, als sich das Wasser langsam zurück in Richtung Meer zurückzog und sie dort auf dem Gras allein zurückließ.
Diedre lag dort auf dem Bauch mit dem Gesicht im nassen Gras und stöhnte vor Schmerzen. Sie schnappte immer noch nach Luft, ihre Lungen brannten. Sie atmete mehrmals tief ein und genoss jeden Atemzug. Sie schaffte es gerade so sich umzudrehen und über ihre Schulter zu schauen und war geschockt, dass da, wo einstmals eine großartige Stadt gethront hatte, nun nichts weiter als ein Meer war. Sie konnte nur den höchsten Teil des Glockenturms ausmachen, der einige Meter aus dem Wasser ragte, welcher ursprünglich hundert Meter hoch in die Luft geragt hatte.
Sie war so unglaublich erschöpft und endlich ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Als sie dort so lag, ließ sie ihr Gesicht auf den Boden fallen und allen Schmerz der schrecklichen Ereignisse zu. Sie konnte sich nicht bewegen, auch wenn sie es versuchte.
Einige Augenblicke später schlief sie schon und war, auf einem verlassenen Feld am Ende der Welt, kaum noch am Leben.
Und doch, irgendwie war sie am Leben.
„Diedre”, sagte eine Stimme und sie wurde sanft angestupst.
Diedre öffnete langsam ihre Augen, verwundert, dass die Sonne bereits unterging. Ihr war eiskalt, ihre Sachen waren immer noch nass, sie versuchte sich zu orientieren und fragte sich, wie lange sie hier wohl bereits gelegen hatte und ob sie tot oder am Leben war. Da war die Hand wieder und schüttelte sie an der Schulter.
Diedre sah nach oben und zu ihrer großen Erleichterung sah sie Marco. Er war am Leben, sie war überglücklich ihn zu sehen. Er sah verdroschen aus, abgezehrt, zu bleich und so als ob er um hundert Jahre gealtert war. Und doch war er am Leben. Irgendwie hatte er es geschafft zu überleben.
Marco kniete neben ihr und lächelte mit traurigen Augen auf sie herab. Seine Augen schienen nicht mit der gleichen Lebensstärke wie zuvor zu strahlen.
„Marco”, antwortete sie schwach, überrascht von ihrer eigenen krächzenden Stimme.
Sie sah einen Kratzer auf der Seite seines Gesichts und streckte ihre Hand besorgt danach aus.
„Du siehst genauso schlimm aus, wie ich mich fühle”, sagte sie.
Er half ihr auf die Beine und sie kam auf die Füße, ihr Körper schmerzte von den ganzen Schnitten und Verletzungen, die sie an den Armen und Beinen hatte. Sie suchte jeden Knochen ab und es schien so als ob nichts gebrochen war.
Diedre nahm einen tiefen Atemzug und stählte sich, als sie sich umdrehte und hinter sich blickte. Und so wie sie es erwartet hatte, sah sie sich einem Albtraum gegenüber: Ihre geliebte Stadt war verschwunden. Es gab nichts mehr außer dem Meer. Das Einzige, was noch zu sehen war, war der Glockenturm. Am Horizont dahinter sah sie eine Flotte aus schwarzen pandesischen Schiffen, die immer weiter und weiter ins Landesinnere segelten.
„Wir können hier nicht bleiben”, sagte Marco mit drängender Stimme. „Sie kommen.”
„Wohin sollen wir gehen?” fragte sie hoffnungslos.
Marco starrte ausdruckslos zurück und wusste es offensichtlich auch nicht.
Diedre sah nach draußen auf den Sonnenuntergang und versuchte zu denken. Das Blut pochte in ihren Ohren. Jeden, den sie kannte und liebte war tot. Sie hatte das Gefühl, dass es nichts gab, wofür es sich zu leben lohnte. Wohin kannst du noch gehen, wenn deine Stadt zerstört wurde? Wenn das Gewicht der Welt auf dir liegt?
Diedre schloss ihre Augen, schüttelte voller Trauer ihren Kopf und wünschte sich alles weg. Ihr Vater, das wusste sie, lag dort tot. Seine Soldaten waren alle tot. Die Menschen, die sie ihr ganzes Leben gekannt und geliebt hatte, waren dank dieser pandesischen Monster tot. Es gab nun niemanden mehr, der sie aufhalten konnte. Welchen Grund gab es noch weiter zu machen?
Diedre brach weinend zusammen. Sie dachte an ihren Vater und fiel auf die Knie, sie fühlte sich zerstört. Sie weinte und weinte und wollte selbst sterben und wünschte sich, sie wäre gestorben und verfluchte den Himmel, dass sie weiterleben musste. Warum hätte sie nicht einfach mit der Welle ertrinken können? Warum hatte sie nicht einfach wie die anderen umgebracht werden können? Warum war sie zum Leben verflucht worden?
Sie fühlte eine beruhigende Hand auf der Schulter.
„Es ist schon in Ordnung, Diedre”, sagte Marco sanft.
Diedre zuckte beschämt zusammen.
„Es tut mir leid”, sagte sie schließlich weinend. „Es ist nur…mein Vater…Ich habe nun nichts mehr.”
„Du hast alles verloren”, sagte Marco mit schwerer Stimme. „Und ich auch. Auch ich will nicht weitermachen. Aber wir müssen. Wir können nicht hier liegen und sterben. Es würde sie nicht ehren. Es würde alles entehren wofür sie gelebt und gekämpft haben.”
In der langen Stille die folgte setzte sich Diedre langsam aufrecht hin und realisierte, dass er Recht hatte. Und als sie nach oben in Marcos braune Augen blickte und sah, wie er sie voller Mitleid ansah, realisierte sie, dass sie doch jemanden hatte. Sie hatte Marco. Sie hatte auch den Geist ihres Vaters, der auf sie hinabsah, sie beschützte und sich wünschte, dass sie stark war.
Sie zwang sich selbst, es abzuschütteln. Sie musste stark sein. Ihr Vater hätte gewollt, dass sie stark war. Selbstmitleid, das realisierte sie, würde niemandem helfen. Und genauso wenig würde dies ihr Tod.
Sie starrte zurück zu Marco und sie konnte mehr als nur Mitleid sehen – sie konnte auch die Liebe in seinen Augen erkennen.
Nicht ganz Herr ihrer Sinne lehnte sich Diedre mit klopfendem Herzen nach vorne und traf Marcos Lippen in einem unerwarteten Kuss. Für einen Moment spürte sie, wie sie in eine andere Welt transportiert wurde und all ihre Sorgen verschwanden.
Sie trat langsam zurück und schaute ihn geschockt an. Marco sah sie genauso verwundert an. Er nahm ihre Hand.
Und als er dies tat, voller Hoffnung, war sie wieder in der Lage klar zu denken – und ein Gedanke blitze in ihr auf. Es gab noch jemanden, eine Person und einen Ort an den sie gehen konnten.
Kyra.
Diedre fühlte wie ein Hoffnungsschimmer in ihr aufkeimte.
„Ich weiß, wohin wir gehen müssen“, sagte sie aufgeregt.
Marco sah sie fragend an.
„Kyra“, sagte sie. „Wir können sie finden. Sie wird uns helfen. Wo auch immer sie ist, sie kämpft. Wir können uns ihr anschließen.“
„Aber woher weißt du, dass sie am Leben ist?“ fragte er.
Diedre