Theon war schneller als alle anderen. Er flog knapp über die Straßen und kreuz und quer und so schnell, dass ihn die anderen dank der Verwirrung und dem Dunst der Hauptstadt nicht einholen konnten. Duncan betrachtete verblüfft die Stadt von oben, die Spitzen der Gebäude und die sich windenden Gassen breiteten sich wie ein Labyrinth unter ihm aus.
Kyra lenkte Theon überragend und Duncan war so stolz auf seine Tochter und so erstaunt davon, dass sie in der Lage war so ein Biest zu kontrollieren. Schon in wenigen Augenblicken waren sie frei, flogen durch den offenen Himmel, ließen die Mauern der Hauptstadt hinter sich und erreichten die weiten Ebenen.
„Wir müssen nach Süden!“ schrie Anvin. „Dort gibt es Felsformationen, außerhalb am Rand der Stadt. Alle unsere Männer warten dort auf uns. Sie haben sich dahin zurückgezogen.“
Kyra lenkte Theon und schon bald flogen sie nach Süden in Richtung eines herausragenden Felsvorsprungs am Horizont. Duncan sah vor ihnen am Horizont, südlich der Hauptstadtmauern, die hundert massiven Felsen, die von kleinen Höhlen übersät waren.
Als sie näherkamen, konnte Duncan die Rüstungen und Waffen in den Höhlen erkennen, sie glänzten im Wüstenlicht und sein Herz schlug schneller als er hunderte seiner Männer sah, die dort am Treffpunkt auf ihn warteten.
Kyra lenkte Theon hinunter und landete am Eingang einer riesigen Höhle. Duncan konnte die Angst in den Gesichtern der Männer unter ihnen sehen, als sich der Drache annäherte und sie sich auf den Angriff einstellten. Aber dann sahen sie Kyra und die anderen auf seinem Rücken und ihr Ausdruck wechselte zu Erschrecken. Sie ließen ihre Verteidigung unbeachtet.
Duncan stieg zusammen mit Kyra und den anderen vom Drachen und lief los um seine Männer freudenvoll zu umarmen. Er war überglücklich, dass sie noch am Leben waren. Da standen Kavos, Bramthos, Seavig und Arthfael, Männer, die ihr Leben für ihn riskiert hatten und von denen er dachte, dass er sie nie wieder sehen würde.
Duncan drehte sich um und sah Kyra und war überrascht, dass sie nicht mit den anderen abgestiegen war.
„Warum sitzt du da noch?“ fragte er. „Wirst du uns nicht begleiten?“
Aber Kyra saß nur dort, ihr Rücken war so gerade und stolz und sie schüttelte ernst mit dem Kopf.
„Ich kann nicht, Vater. Ich habe etwas Dringendes woanders zu erledigen. Im Auftrag von Escalon.“
Duncan starrte verwundert zurück. Er war verblüfft was für eine starke Kriegerin seine Tochter geworden war.
„Aber wo?“ fragte Duncan. „Wo ist es denn wichtiger als bei uns?“
Sie zögerte.
„Marda“, antwortete sie.
Duncan fühlte wie ihm der Schauer bei diesem Wort über den Rücken lief.
„Marda?“ keuchte er. „Du? Allein? Du wirst niemals zurückkehren!“
Sie nickte und er sah in ihren Augen, dass sie es bereits wusste.
„Ich habe es geschworen“, antwortete sie, „und ich kann meine Mission nicht aufgeben. Da du nun sicher bist, ruft mich die Pflicht. Hast du mir nicht immer beigebracht, dass die Pflicht zuerst kommt, Vater?“
Duncan fühlte wie sein Herz vor Stolz fast überlief. Er trat nach vorne und umarmte sie. Er drückte sie fest an sich und seine Männer kamen näher.
„Kyra, meine Tochter. Du bist der bessere Teil meiner Seele.“
Er sah wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und sie nickte zurück. Sie war stärker, mächtiger und ohne die Empfindungen, die sie sonst gehabt hatte. Sie trieb Theon an und er hob zügig ab und flog schnell empor. Kyra flog stolz auf seinem Rücken, höher und höher immer weiter, hoch in den Himmel.
Duncan Herz brach, als er sah wie sie in Richtung Norden aufbrach und fragte sich, als sie irgendwohin in die Dunkelheit Mardas flog, ob er sie jemals wiedersehen würde.
KAPITEL ZEHN
Kyra lehnte sich nach vorne und klammerte sich fest an Theons Schuppen. Der Wind pfiff durch ihr Haar. Sie flogen durch die Wolken und ihre Hände zitterten vor Kälte und Feuchtigkeit. Aber Kyra ignorierte das alles, während sie über Escalon in Richtung Marda hinwegfegten. Nichts würde sie jetzt noch aufhalten.
Kyras Kopf quoll fast über mit all den Erinnerungen an das was sie durchgemacht hatte. Sie war immer noch dabei alles zu verarbeiten. Sie dachte an ihren Vater und war überglücklich, dass er sicher außerhalb von Andros mit seinen Männern war. Sie verspürte eine große Genugtuung. Sie war fast bei dem Versuch gestorben zu ihm zu gelangen und gewarnt worden sich von ihm fernzuhalten. Doch sie hatte nicht aufgegeben und tief in ihrem Herzen gewusst, dass er sie brauchte. Sie hatte eine wertvolle Lektion gelernt: Sie musste immer ihren Instinkten trauen, egal wie viele Menschen sie auch warnten.
Tatsächlich realisierte sie nun, jetzt wo sie über alles nachdachte, dass genau das der Grund gewesen war, warum Alva sie gewarnt hatte: Es war ein Test gewesen. Er hatte deutlich gemacht, dass sie sterben würde, wenn sie ihren Vater retten würde. Er hatte ihre Entschlossenheit und ihren Mut testen wollen. Er hatte immer gewusst, dass sie überleben würde. Aber er wollte sehen ob sie auch bereit war sich in den Kampf zu stürzen wenn sie dachte, dass sie sterben würde.
Und natürlich hatte ihr Vater sie im selben Moment gerettet; wenn er nicht in dem Moment gekommen wäre, in dem er gekommen war, wäre Theon immer noch unter dem Schutt eingeklemmt und sie sicherlich bereits tot gewesen. Der Gedanke an ihren Vater, der alles für sie riskiert hatte, erwärmte ihr Herz. Bei dem Gedanken daran wie er sich mutig den Flammen, den Drachen und dem Tod gestellt hatte stiegen ihr die Tränen in die Augen. Und das alles hatte er nur für sie getan.
Kyra musste bei dem Gedanken an ihren Bruder Aidan lächeln. Sie war so glücklich, dass auch er am Leben und sicher war. Sie dachte an ihre zwei toten Brüder und auch wenn so viel Kampf und Rivalität zwischen ihnen gestanden hatte, tat es ihr trotzdem weh. Sie wünschte, sie hätte da sein und sie beschützen können.
Kyra dachte an Andros, die einst so mächtige Hauptstadt, die nun nur noch ein Flammenkessel war und ihr Herz zog sich bei dem Gedanken zusammen. Würde Escalon jemals wieder zu seiner einstigen Pracht finden können?
Es war so viel geschehen, dass Kyra es kaum verarbeiten konnte. Es war so, als ob sich die Welt unter ihr völlig unkontrolliert drehte, so als ob die einzige Konstante in diesen Tagen die Veränderung selbst war.
Kyra versuchte alles abzuschütteln und sich auf die Reise, die vor ihr lag zu konzentrieren: Marda. Kyra hatte das Gefühl von Bestimmung, als sie mit klopfendem Herzen flog. Sie wollte unbedingt ankommen und den Stab der Wahrheit finden. Sie flog durch die Wolken hindurch und suchte die Landschaft nach Markierungen ab. Sie versuchte zu erkennen wie nah sie bereits der Grenze, den Flammen, war. Als sie die Landschaft absuchte, sah sie mit schmerzendem Herzen was aus ihrem Heimatland geworden war: Sie sah ein Land, welches in Stücke gerissen und von Flammen zerstört war. Sie sah ganze Festungen vollständig zerstört. Ob sie von den pandesischen Soldaten oder den plündernden Trollen oder wütenden Drachen zerstört worden waren, wusste sie nicht. Sie sah ein Land so verwüstet, dass es mit dem Land, welches sie einst geliebt und gekannt hatte, nichts mehr gemein hatte. Es war kaum zu glauben. Das Escalon, das sie kannte, gab es nicht mehr.
Es fühlte sich alles so surreal an. Es war schwer zu verstehen, dass eine Veränderung so heftig und schnell eintreten konnte. Es brachte sie zum Nachdenken. Was wäre passiert, wenn sie in dieser einen, verschneiten Nacht niemals den verwundeten Theos gefunden hätte? Wäre das Schicksal Escalons anders verlaufen?
Oder war es alles vorherbestimmt gewesen? War sie die einzige Verantwortliche für all das hier, für all das, was sie dort unten sah? Oder war sie nur das Fahrzeug gewesen? Wäre alles auch so passiert?
Kyra wollte unbedingt hinabfliegen. Sie wollte hier in Escalon bleiben und dabei helfen Krieg gegen die Pandesier und Trolle zu führen und zu reparieren, was möglich war. Doch trotz des Gefühls der drohenden Todesangst, zwang sie sich selbst nach vorne zu schauen und konzentriert auf ihre Mission zu blicken und weiter Richtung Norden in die Dunkelheit Mardas zu fliegen.
Kyra