Einer von ihnen ist genau jetzt.
Ich bin 13 Jahre alt, Bree ist sechs, und wir stehen auf einem Strand mit feinem, weichen Sand. Mein Vater hält meine Hand, und meine Mutter hält Brees, und wir vier gehen über den heißen Sand zum Meer. Die kühle Gischt der Wellen fühlt sich gut an auf meinem Gesicht an, sie lässt die Hitze des Augusttages langsam verschwinden. Wellen brechen um uns herum, mein Vater und meine Mutter lachen unbeschwert.
Ich habe sie noch nie so entspannt gesehen. Ich ertappe sie dabei, wie sie einander liebevoll anschauen, und ich pflanze das Bild fest in meinen Kopf ein. Es ist eines der wenigen Male, dass ich sie so glücklich miteinander sehe, und ich möchte es nicht vergessen.
Bree schreit vor Freude, begeistert über die brechenden Wellen, die ihr bis zur Brust gehen, über den ziehenden Sog, der ihr bis an die Oberschenkel reicht. Meine Mutter hält Bree fest, und mein Vater drückt meine Hand, um uns vor der Strömung des Meeres zu schützen.
„EINS! ZWEI! DREI!“ ruft mein Vater.
Ich werde hoch in die Luft gehoben, als mein Vater an meiner Hand zieht und meine Mutter an Brees. Ich gehe hoch, über eine Welle, und schreie, als ich sie durchstoße und sie hinter mir bricht.
Ich staune, dass mein Vater einfach so da stehen kann, wie ein Fels in der Brandung, scheinbar ohne die Gewalt der Natur überhaupt zu spüren.
Wenn eine neue Welle kommt, bekomme ich Angst. Ich fühle das kalte Wasser an meiner Brust. Ich drücke die Hand meines Vaters fester, als der Sog wieder kommt, und wieder hält er mich fest. Ich fühle in diesem Moment, dass er mich vor allem beschützen wird, für immer. Welle um Welle bricht, und zum ersten Mal seit ich mich erinnern kann, sind meine Mutter und mein Vater nicht in Eile. Sie heben uns immer wieder hoch, Bree schreit vor Freude. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, an diesem herrlichen Sommertag, an diesem friedlichen Strand, unter dem wolkenlosen Himmel, die Gischt in meinem Gesicht.
Ich will, dass die Sonne nie untergeht, dass sich niemals irgendetwas ändert. Ich will hier sein, genau so, für immer. Und in diesem Moment fühle ich, wie ich sein könnte.
Ich öffne langsam meine Augen, irritiert durch das, was ich vor mir sehe. Ich bin nicht am Meer, sondern sitze auf dem Beifahrersitz eines Motorbootes, das flussaufwärts rast. Es ist nicht Sommer, sondern Winter, und die Ufer sind von Schnee bedeckt. Ab und zu schwimmen Eisbrocken an uns vorbei. Mein Gesicht wird zwar von Wasser bespritzt, aber das ist nicht der kühle Sprühregen der Wellen im Sommer, sondern die kalte Gischt des eisigen Hudson im Winter. Ich blinzelte einige Male, bis ich merke, dass es sich nicht um einen wolkenlosen Sommermorgen, sondern um einen trüben Winternachmittag handelt. Ich versuche herauszufinden, was passiert ist, wie sich alles verändert hat.
Ich setze mich mit einem Frösteln auf und schaue mich um, bin gleich auf der Hut. Ich bin nicht mehr bei Tageslicht eingeschlafen, solange ich mich erinnern kann, und es überrascht mich. Schnell gehe ich in Position und schaue zu Logan, der stoisch hinter dem Steuer steht. Er fixiert den Fluss und steuert den Hudson entlang.
Ich drehe mich und sehe Ben, wie er, den Kopf auf seine Hände gestützt, auf den Fluss hinaus starrt, ganz in seiner eigenen Welt.
Auf der anderen Seite des Bootes sitzt Bree, die Augen geschlossen, zurückgelehnt auf ihrem Stuhl. Ihre neue Freundin Rose hat sich an sie gekuschelt und ist an ihrer Schulter eingeschlafen. Auf ihrem Schoß schläft unser neues Haustier, ein einäugiger Chihuahua.
Ich bin erstaunt, dass ich es zulassen habe einfach einzuschlafen. Aber als ich eine halb leere Flasche Champagner in meiner Hand sehe, habe ich eine Erklärung. Mich hat wohl der Alkohol, den ich seit Jahren nicht angerührt habe, außer Gefecht gesetzt – in Verbindung mit vielen schlaflosen Nächten und vielen Tagen im Adrenalinrausch. Mein Körper ist so zerschlagen, voller Schmerzen und blauen Flecken, so dass er wohl wie von selbst eingeschlafen sein muss. Ich fühle mich schuldig: Ich habe Bree nie zuvor aus den Augen gelassen.
Aber wie ich zu Logan herüber schaue und seine starke Gegenwart wahrnehme, denke ich, dass ich mich bei ihm wohl sicher genug gefühlt haben muss, um einschlafen zu können. In gewisser Weise ist es, als wäre mein Vater wieder zurück. Habe ich deshalb von ihm geträumt?
„Schön, dass du wieder da bist“ tönt die tiefe Stimme von Logan. Er schaut zu mir herüber, ein kleines Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Ich lehne mich nach vorne und schaue auf den Fluss vor uns, den wir wie Butter durchschneiden. Das Röhren des Motors ist ohrenbetäubend, und das Boot fährt mit der Strömung, bewegt sich auf und ab in seltsamen Bewegungen und schaukelt dabei ein kleines bisschen. Die kalte Gischt spritzt mir direkt ins Gesicht. Ich schaue an mir herunter und sehe, dass ich immer noch die gleichen Kleider anhabe, die ich seit Tagen trage. Meine Kleider kleben praktisch an meiner Haut, durchtränkt von Schweiß, Blut und Dreck, jetzt auch noch feucht durch die Gischt. Ich bin nass und hungrig, außerdem ist mir kalt. Ich würde alles tun für eine heiße Dusche, eine heiße Schokolade, ein prasselndes Feuer, frische Kleidung. Ich suche den Horizont ab: Der Hudson liegt vor uns wie ein großes, weites Meer.
Wir halten uns in der Mitte, weit weg von beiden Ufern, Logan hält uns klugerweise fern von möglichen Feinden. Als ich mich erinnere, drehe ich mich sofort um, um nach den Sklaventreibern Ausschau zu halten. Ich sehe keine. Ich drehe mich um und suche den Horizont vor uns nach Booten ab. Nichts. Ich scanne die Ufer nach Anzeichen für Bewegung ab. Nichts. Es ist, als gehöre die Welt nur uns. Es ist tröstlich und trostlos zugleich.
Langsam gehe ich aus meiner Hab-Acht-Stellung. Ich fühle mich als hätte ich ewig geschlafen, aber an der Position der Sonne am Himmel sehe ich, dass es erst Nachmittag ist. Ich kann nicht länger als eine Stunde geschlafen haben, wenn überhaupt. Ich schaue mich nach irgendeinem Orientierungspunkt um. Schließlich sind wir fast wieder in der Nähe meines Zuhauses. Aber ich sehe keinen.
„Wie lange habe ich geschlafen?“ frage ich Logan.
Er zuckt mit den Achseln „Vielleicht eine Stunde."
Eine Stunde, denke ich. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit.
Ich prüfe den Benzinstand, er ist halb leer. Das sieht nicht gut aus.
„Gibt es irgendwo Benzin?“, frage ich.
In dem Moment, in dem ich frage, merke ich, dass es eine dumme Frage ist.
Logan sieht zu mir herüber, als wolle er wirklich? sagen. Natürlich, wenn er eine Tankstation gesehen hätte, hätte er sie angefahren.
„Wo sind wir?“ frage ich.
„Das ist dein Bereich,“ sagt er. „Ich wollte dich das gleiche fragen.“ Ich suche den Fluss wieder ab, aber kann immer noch nichts wieder erkennen. So ist das mit dem Hudson – er ist so breit und zieht sich ewig lang hin, man kann schnell die Orientierung verlieren.
„Warum hast du mich nicht geweckt?" frage ich.
„Warum sollte ich? Du hast den Schlaf gebraucht."
Ich weiß nicht recht, was ich sonst noch zu ihm sagen soll. Das ist die Sache mit Logan: Ich mag ihn, ich spüre, dass er mich mag, aber ich weiß nicht, ob wir uns viel zu sagen haben. Es hilft nicht, dass er vorsichtig sein muss und ich auch. Wir fahren fort in der Stille, das wilde Wasser schäumt unter uns, und ich frage mich, wie viel weiter wir gehen können. Was machen wir, wenn uns der Treibstoff ausgeht?
In der Ferne sehe ich etwas am Horizont. Es sieht aus wie eine Art Gebäude im Wasser. Zunächst frage ich mich, ob ich vielleicht anfange Dinge zu sehen, aber dann reckt Logan aufmerksam den Hals, und ich merke, dass er es auch sehen muss.
„Ich denke, es ist eine Brücke,“ sagt er. „Eine herunter gestürzte Brücke."
Er hat Recht. Während wir immer näher kommen, sehen wir ein Stück gedrehtes Metall hoch aus dem Wasser ragen, wie eine Art Höllendenkmal. Ich erinnere mich an diese Brücke: wie sie einst den Fluss überspannt