Leiser Gesang klang durch die vom Weihrauch schwere Luft und Gwendolyn fragte sich, welches Geheimnis Eldof hütete. Würde er ihr das Wissen anvertrauen, das sie brauchte, um den König und das Königreich zu retten? Konnte sie es jemals schaffen, die Familie des Königs aus diesem Turm zu befreien?
Als Gwendolyn um eine Ecke bog, öffnete sich der Korridor plötzlich in einen riesigen Saal. Staunend betrat die den Raum mit der dreißig Meter hohen Decke, dessen Wände von oben bis unten aus Bleiglasfenstern bestanden. Gedämpftes Licht fiel durch sie hinein, und ließ rote und violette Streifen durch den Raum wandern, was ihm eine ätherische Atmosphäre verlieh. Es gab dem Mann, der allein inmitten des Saals saß und auf den eine gleißende Lichtseite fiel ein fast surreales Aussehen.
Eldof.
Gwendolyns Herz pochte, als sie ihn sah. Im Lichtkegel saß er da, wie ein Gott, der vom Himmel gefallen war. Er hatte seine Hände in seiner glänzenden goldenen Kutte verborgen, sein Kopf war kahlgeschoren, und er saß auf einem riesigen geschnitzten Thron aus Elfenbein, der von Fackeln auf beiden Seiten erleuchtet wurde. Diese Kammer, der Thron, und die Rampe, die zu ihm hinaufführte war ehrfurchtgebietender, als sich einem König zu nähern. Sie verstand sofort, warum sich der König von Eldofs Gegenwart bedroht fühlte. Alles, der Turm, diese Kammer, der Mann waren darauf ausgelegt, Ehrfurcht und Unterwürfigkeit zu erwecken.
Weder winkte sie nicht zu sich heran noch schien er ihre Anwesenheit wahrzunehmen, darum ging Gwendolyn, die nicht wusste, was sie sonst tun sollte, langsam die goldene Rampe zu seinem Thron hinauf. Als sie hinaufging bemerkte sie, dass er doch nicht allein war, denn im Schatten standen Reihen Anhängern im Schatten der Rampe Sie fragte sich, wie viele tausend Anhänger er wohl hatte.
Schließlich blieb sie wenige Meter vor dem Thron stehen und sah hinauf.
Er blickte mit eisblau leuchtenden Augen auf sie herab, die ihr uralt erschienen, doch auch wenn er sie anlächelte, lag keine Wärme in seinen Augen. Sie waren hypnotisch. Seine Präsenz erinnerte sie an Argon.
Sie wusste nicht was sie sagen sollte, als er sie anstarrte; es fühlte sich an, als starrte er in ihre Seele. Schweigend stand sie vor ihm und wartete darauf, dass er bereit war. Krohn neben ihr war ebenso starr und nervös wie sie.
„Gwendolyn aus dem Westlichen Königreich des Rings, Tochter von König MacGil, letzte Hoffnung und Retterin ihres – und unseres – Volkes“, sagte er langsam, als ob er aus einer Schriftrolle vorlas. Seine Stimme war tief und klang, als sprächen die Steine, aus denen der Turm erbaut war. Sein Blick bohrte sich in ihren, und seine Stimme hypnotisierte sie. Während er sie ansah, verlor sie jegliches Zeitgefühl und schon spürte Gwendolyn, wie sie von seiner Persönlichkeit in den Kult hineingesaugt wurde. Sie fühlte sich wie in Trace und konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sofort hatte sie das Gefühl, dass er das Zentrum ihrer Welt war, und sie verstand, wie es dazu kam, dass all diese Leute ihn verehrten und ihm folgten.
Gwendolyn erwiderte sprachlos seinen Blick, etwas, was ihr selten passierte. Sie war noch nie auf Anhieb so sehr von jemandem fasziniert gewesen – und sie war schon vielen Königen und Königinnen gegenübergestanden; sie, die selbst eine Königin war; sie, die Tochter eines Königs. Dieser Mann hatte etwas an sich, das sie nicht beschreiben konnte; einen Augenblick lang hatte sie sogar vergessen, warum sie gekommen war.
Schließlich erlangte sie lange genug die Kontrolle über ihren Verstand zurück, um zu sprechen.
„Ich bin gekommen“, begann sie, „weil…“
Er unterbrach sie mit einem Lachen.
„Ich weiß, warum du gekommen bist“, sagte er. „Ich wusste es lange bevor du es wusstest. Ich wusste es von deiner Ankunft an diesem Ort, bevor du die Große Wüste durchquert hast. Ich wusste von deiner Abreise aus dem Ring, deiner Reise zu den Oberen Inseln und von deiner Reise über das Meer. Ich weiß von deinem Gemahl, Thorgrin, und deinem Sohn, Guwayne. Ich habe dich mit großem Interesse beobachtet, Gwendolyn, und das schon seit Jahrhunderten.“
Gwendolyn liefen bei seinen Worten kalte Schauer über den Rücken. Ihr ganzer Körper kribbelte, und sie fragte sich, woher er so viel über sie wusste. Sie hatte das Gefühl, dass er sie in seinen Bann zog. Wenn er sie einmal eingefangen hätte, gäbe es kein Entkommen mehr.
„Woher weißt du all das?“, fragte sie.
Er lächelte.
„Ich bin Eldof. Ich bin der Anfang und das Ende allen Wissens.“
Er stand auf, und erschrocken bemerkte sie, dass er doppelt so groß wie jeder andere Mann war, dem sie je begegnet war. Er ging auf sie zu und sein Blick war so fesselnd, dass Gwendolyn das Gefühl hatte, sich in seiner Gegenwart nicht bewegen zu können. Es war so schwer, sich vor ihm zu konzentrieren und auch nur einen unabhängigen Gedanken zu fassen.
Gwendolyn zwang sich, sich zu konzentrieren.
„Dein König braucht dich“, sagte sie. „Das Königreich braucht dich.“
Er lachte.
„Mein König?“ widerholte er voller Abscheu.
Gwendolyn zwang sich, nicht nachzugeben.
„Er glaubt, dass du das Wissen hast, das Königreich zu retten. Er glaubt, dass du ein Geheimnis vor ihm bewahrst, das diesen Ort und alle Menschen darin retten könnte.“
„Das tue ich“, antwortete er schlicht.
„Das tust du?“, fragte sie irritiert.
Er lächelte, antwortete jedoch nicht.
„Aber warum?“, fragte sie. „Warum willst du das Geheimnis nicht teilen?“
„Warum sollte ich?“, fragte er.
„Warum?“, wiederholte sie sprachlos. „Natürlich um das Königreich und sein ganzes Volk zu retten.“
„Und warum sollte ich das tun?“
Gwendolyn kniff verwirrt ihre Augen zusammen; sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Schließlich seufzte er.
„Dein Problem ist“, sagte er, „dass du glaubst, dass alle gerettet werden sollten. Doch damit liegst du falsch. Du betrachtest die Zeit durch die Linse von Jahrzehnten; ich betrachte sie über die Jahrhunderte. Du betrachtest Menschen als unverzichtbar; ich sehe sie lediglich als Rädchen im großen Rad des Schicksals und der Zeit.“
Er trat mit loderndem Blick näher.
„Manchen Menschen, Gwendolyn, ist es bestimmt, zu sterben. Manche Menschen müssen sterben.“
„Müssen sterben?“, wiederholte sie schockiert.
„Manche müssen sterben, um andere zu befreien“, sagte er. „Manche müssen fallen, damit sich andere erheben können. Was macht einen Menschen wichtiger als den anderen? Einen Ort wichtiger als den anderen?“
Sie dachte mit wachsender Verwirrung über seine Worte nach.
„Ohne Zerstörung, ohne Verlust, kann es kein Wachstum geben. Ohne den leeren Wüstensand gäbe es kein Fundament, auf das man die großen Städte bauen könnte. Was ist wichtiger: Die Zerstörung, oder das Wachstum, das folgt? Kannst du es nicht verstehen? Was mehr ist Zerstörung als ein Fundament?“
Gwendolyn war verwirrt und versuchte, ihn zu verstehen, doch seine Worte ließen ihre Verwirrung nur noch wachsen.
„Dann willst du zusehen wie das Königreich und sein Volk sterben?“, fragte sie. „Warum? Was bringt dir das?“
Er lachte.
„Warum sollte es für alles immer einen Nutzen geben?“, fragte er. „Ich werde sie nicht retten, weil es ihnen nicht bestimmt ist, gerettet zu werden“, sagte er mitfühlend. „Diesem Ort, dem Königreich des Jochs, ist es nicht bestimmt, gerettet zu werden. Ihm ist bestimmt, zerstört zu werden. Diesem König ist es bestimm, zerstört zu werden. Und es ist nicht meine Aufgabe, mich dem Schicksal in den Weg zu stellen. Mir ist das Geschenk zuteil geworden, das ich in die Zukunft sehen kann – doch es ist ein Geschenk, das ich nicht missbrauchen darf.