Sie stand vor der Notre Dame.
Sie war in Paris.
Es war ein Ort, der mit keinem anderen zu verwechseln war. Ihre drei riesigen Eingangstore, aufwändig geschnitzt; die Dutzenden kleiner Statuen darüber; ihre reich verzierte Fassade, die hunderte Meter in den Himmel ragte. Es war ein Ort mit einem der höchsten Wiedererkennungswerte auf der Welt. Sie hatte ihn schon viele Male zuvor online gesehen. Sie konnte es nicht glauben: sie war tatsächlich in Paris.
Caitlin hatte schon immer einmal nach Paris reisen wollen, ihre Mutter immer angebettelt, mit ihr hierher zu kommen. Als sie einmal einen Freund hatte, in der High School, hatte sie immer gehofft, er würde mit ihr hierherkommen. Es war immer schon ihr Traum gewesen, diesen Ort einmal zu besuchen, und es raubte ihr den Atem, dass sie tatsächlich hier war. Und in einem anderen Jahrhundert.
Caitlin spürte, wie sie in der dichter werdenden Menge herumgeschubst wurde, und sie blickte plötzlich an sich hinunter und begutachtete ihre Kleidung. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie immer noch in die schlichte Gefängniskleidung gehüllt war, die Kyle ihr im Kolosseum in Rom gegeben hatte. Sie trug eine Leinentunika, die auf der Haut kratzte, grob geschnitten war, viel zu groß für sie, mit einem Stück Seil über ihren Oberkörper und ihre Beine gebunden. Ihr Haar war verfilzt, ungewaschen, klebte ihr im Gesicht. Sie sah aus wie ein Ausbrecher oder ein Landstreicher.
Noch ängstlicher suchte Caitlin erneut nach Caleb, nach Sam, nach irgendwem, den sie kannte, irgendwem, der ihr helfen konnte. Noch nie hatte sie sich einsamer gefühlt, und sie wollte nichts mehr, als sie zu erblicken, zu wissen, dass sie nicht allein an diesen Ort zurückgereist war; zu wissen, dass alles gut werden würde.
Aber sie erkannte niemanden.
Vielleicht bin ich die Einzige, dachte sie. Vielleicht bin ich wirklich wieder auf mich allein gestellt.
Der Gedanke daran fuhr ihr wie ein Messer in den Magen. Sie wollte sich einrollen, zurück in die Kirche kriechen und sich verstecken, in eine andere Zeit geschickt werden, an einen anderen Ort—irgendwohin, wo sie aufwachen und jemanden sehen konnte, den sie kannte.
Doch sie riss sich zusammen. Sie wusste, es gab keinen Rückzug, keine andere Möglichkeit, als vorwärts zu gehen. Sie musste nur tapfer sein, ihren Weg durch diese Zeit und diesen Ort suchen. Es gab schlicht und einfach keine andere Wahl.
Caitlin musste aus dieser Menschenmenge raus. Sie musste allein sein, sich ausruhen, Nahrung aufnehmen, nachdenken. Sie musste herausfinden, wohin sie gehen musste, wo sie nach Caleb suchen musste, und ob er überhaupt hier war. Was genauso wichtig war, sie musste herausfinden, warum sie in dieser Stadt und in dieser Zeit gelandet war. Sie wusste nicht einmal, welches Jahr es war.
Jemand stieß sie im Vorbeigehen an, und Caitlin packte ihn am Arm, überwältigt von einem plötzlichen Bedürfnis, es zu wissen.
Er drehte sich zu ihr um und sah sie an, verdutzt davon, so abrupt angehalten worden zu sein.
„Entschuldigen Sie“, sagte sie und spürte, wie trocken ihre Kehle war und wie heruntergekommen sie aussehen musste, während sie ihre ersten Worte so hervorstieß, „aber welches Jahr ist es?“
Es war ihr sofort peinlich, während sie noch fragte, als ihr klar wurde, dass sie verrückt erscheinen musste.
„Jahr?“, fragte der verwirrte Mann im Gegenzug.
„Äh…es tut mir leid, aber ich kann mich irgendwie…nicht erinnern.“
Der Mann blickte an ihr hinunter, schüttelte dann langsam den Kopf, als würde er beschließen, dass mit ihr etwas nicht stimmte.
„Es ist natürlich 1789. Und es ist nicht einmal fast Neujahr, also hast du wirklich keine Ausrede“, sagte er, schüttelte abfällig den Kopf und marschierte davon.
1789. Die Realität dieser Zahl raste durch Caitlins Gedanken. Sie erinnerte sich daran, dass sie gerade erst im Jahr 1791 gewesen war. Zwei Jahre. Nicht so weit entfernt.
Und doch, sie war jetzt in Paris, einer völlig anderen Welt als Venedig. Warum hier? Warum jetzt?
Sie zermarterte sich das Gehirn, versuchte verzweifelt, sich an ihren Geschichtsunterricht zu erinnern; daran, was 1789 in Frankreich vorgefallen war. Es war ihr peinlich, festzustellen, dass sie es nicht konnte. Sie gab sich wieder einmal einen inneren Tritt dafür, in der Schule nicht besser aufgepasst zu haben. Wenn sie in der High School gewusst hätte, dass sie eines Tages durch die Zeit reisen würde, hätte sie die ganze Nacht lang Geschichte gebüffelt und sich bemüht, alles auswendig zu lernen.
Das war jetzt belanglos, erkannte sie. Nun war sie Teil der Geschichte. Nun hatte sie eine Chance, sie zu ändern, und sich selbst zu ändern. Die Vergangenheit, so wurde ihr klar, konnte geändert werden. Nur, weil gewisse Ereignisse in den Geschichtsbüchern passiert waren, hieß das nicht, dass sie, die Zeitreisende, sie nicht jetzt ändern konnte. Gewissermaßen hatte sie das bereits: ihr Erscheinen hier in dieser Zeit würde alles beeinflussen. Und das konnte wiederum auf seine eigene kleine Art den Lauf der Geschichte ändern.
Die Bedeutsamkeit ihrer Handlungen wurde ihr nur noch stärker bewusst. Es lag in ihrer Hand, die Vergangenheit neu zu erschaffen.
Ihre elegante Umgebung auf sich wirken lassend, entspannte sich Caitlin ein wenig, und fühlte sich sogar etwas ermutigt. Zumindest war sie an einem wunderschönen Ort gelandet, einer wunderschönen Stadt und zu einer wunderschönen Zeit. Dies war immerhin wohl kaum die Steinzeit, und es war auch nicht so, dass sie mitten im Nirgendwo aufgetaucht war. Alles um sie herum sah makellos aus, und die Leute waren alle so fein gekleidet, und die gepflasterten Straßen glänzten im Licht der Fackeln. Und das Eine, was ihr zu Paris im 18. Jahrhundert einfiel, war, dass es für Frankreich eine luxuriöse Zeit war, eine Zeit großen Wohlstandes, als noch Könige und Königinnen herrschten.
Caitlin merkte, dass die Notre Dame auf einer kleinen Insel lag, und sie verspürte das dringende Bedürfnis, von ihr herunterzukommen. Es war hier einfach zu gedrängt, und sie brauchte etwas Frieden. Sie sah mehrere kleine Fußbrücken, die von ihr herunterführten, und machte sich auf den Weg zu einer davon. Sie ließ die Hoffnung zu, dass Calebs Präsenz sie in eine bestimmte Richtung lotste.
Während sie den Fluss überquerte, stellte sie fest, wie wunderschön die Nacht in Paris war, erleuchtet von den Fackeln entlang des gesamten Flusses, sowie vom vollen Mond. Sie dachte an Caleb und wünschte, er würde an ihrer Seite sein und den Anblick mit ihr gemeinsam genießen.
Als sie über die Brücke ging und auf das Wasser hinunterblickte, wurde sie von Erinnerungen überrannt. Sie dachte an Pollepel, an den Hudson River bei Nacht, an die Art, wie der Mond den Fluss erleuchtete. Sie verspürte das plötzliche Verlangen, von der Brücke zu springen, ihre Flügel auszuprobieren, zu sehen, ob sie wieder fliegen konnte, und hoch über ihr schweben.
Doch sie fühlte sich schwach, und hungrig, und wenn sie sich zurücklehnte, konnte sie die Gegenwart ihrer Flügel gar nicht spüren. Sie machte sich Sorgen, dass ihre Zeitreise ihre Fähigkeiten, ihre Kräfte beeinflusst hatte. Sie fühlte sich nicht annähernd so stark wie zuvor. Tatsächlich fühlte sie sich beinahe menschlich. Zerbrechlich. Verwundbar. Das Gefühl gefiel ihr gar nicht.
Nachdem Caitlin den Fluss überquert hatte, ging sie durch Seitengassen, stundenlang umherirrend, hoffnungslos verlaufen. Sie ging durch gewundene Gassen, weiter und weiter vom Fluss weg, Richtung Norden. Sie war von der Stadt beeindruckt. In vieler Hinsicht fühlte sie sich ähnlich an wie Venedig und Florenz im Jahr 1791. So wie auch diese Städte war Paris immer noch unverändert, genau wie es im 21. Jahrhundert noch erschien. Sie war noch nie zuvor hier gewesen, doch sie hatte Fotos gesehen und war verblüfft, so viele Gebäude und Denkmäler wiederzuerkennen.
Auch hier waren die Straßen großteils gepflastert, voller Pferdekutschen oder gelegentlich einem Pferd mit einem einzelnen Reiter. Die Leute spazierten in aufwändigen Kostümen umher, gemächlich schlendernd, mit aller Zeit der Welt. Wie in den anderen Städten gab es auch hier keine Kanalisation, und Caitlin konnte nicht umhin, den Mist in den Straßen zu bemerken und vor dem schrecklichen Gestank in der Sommerhitze zurückzuweichen. Sie wünschte, sie