„Nun, liebes Kind, du bist doch mit“, fragend den Begleiter anschauend, der ergänzte: „Großvater“, „hierher gekommen, um die schönen, neuen Kleider des Kaisers und die Parade zu bewundern?“
Das Mädchen, das den schönen Namen Traudelinde trug, antwortete wahrheitsgemäß, laut und vernehmlich für alle Umstehenden:
„Aber der Kaiser hat doch gar nichts an!“
Des Kaisers neue Kleider
Das schlug ein wie eine Bombe. Ein zunächst kaum vernehmbares Getuschel setzte ein, das immer lauter und lauter wurde, anschwoll und sich über den ganzen Schlossplatz verbreitete: „Haben Sie das gehört!? Der Kaiser hat doch gar nichts an, der Kaiser ist splitterfasernackt!“, bis auch der Hofstaat und der Kaiser selber es nicht mehr überhören konnten. Jetzt hörte man erste Lacher und Gekicher, erst noch vereinzelt und hinter vorgehaltener Hand, das in einem donnerndem Gelächter gipfelte und in Worten in Windeseile durch die Straßen und Gassen, in die Häuser und Wohnungen, über die Stadt hinaus aufs Land und über die Felder und Wiesen getragen wurde, die Bauern bei der Ernte erreichte, die die Arbeit unterbrachen, aufhorchten, die Köpfe hoben und sie schallend auflachend in den Nacken warfen. In den Wirtshäusern klopften sich die unentwegten Kneipenbesucher krachend auf die Schenkel und forderten vergnügt: „Darauf noch einen Schnaps und ein Bier!“, was zum Wohlsein der Wirtsleute beitrug.
Kurzum, die Heiterkeit schlug hohe Wellen, und Kaiser Kokolores war dem Gespött und der Schadenfreude preisgegeben!
Doch zurück zum Schauplatz des schmachvollen Geschehens. Da stand er nun, der Kaiser, in seiner ganzen blassrosa fleischlichen Körperfülle und schaute entsetzt an sich herunter. Seinem mächtigen Bauch hatte er zu verdanken, dass seine Sichtweise bis auf den Nabel beschränkt blieb. Tränen traten ihm in die Augen, die Welt brach zusammen, und er fiel in eine gnädige Ohnmacht. Da lag er nun hilflos am Boden, der mächtigste Mann von Wirsindwer, nackt wie ein Neugeborenes.
Eilig bedeckten ein paar Bedienstete Kokolores erneut mit der Landesfahne, die, das muss mal gesagt werden dürfen, auch wenn man nicht unbedingt ein Freund von Nationalflaggen ist, wirklich gute Dienste geleistet hatte. Die für solche Anlässe gerüsteten, bereitgestellten Rettungsdienste kamen zum Einsatz, und die Sanitäter waren erfreut, dass sich ihnen die Gelegenheit bot vorzuführen, welch eingespieltes Team sie sind. Der Kaiser wurde auf eine Trage gewälzt, in den Notarztwagen geschoben, und mit Tatütata ging es ins Herrschaftliche Krankenhaus ganz in der Nähe, in dem versucht wurde, den Unglücklichen mit einem Beatmungsgerät wieder ins Leben zurückzurufen. Es war wirklich schlecht um den Landesvater bestellt, ja, es hatte sogar den Anschein, als habe er nicht die Absicht, wieder zu sich zu kommen, was man ihm unter den gegebenen unglückseligen Umständen nicht verübeln konnte.
Den Zuschauern und Hörern vor den Fernsehern und an den Rundfunkgeräten in aller Welt ging nun endlich und gänzlich unbeabsichtigt ein Licht auf. Ein Kind hatte ihnen in seiner Arglosigkeit ihre eigene peinliche Dummheit vor Augen geführt. Niemand hatte es gewagt, das Offensichtliche auszusprechen, aus Angst sich zu blamieren, aus Feigheit, sich lächerlich zu machen, aus Mangel an Mut zur eigenen Meinung. Wie Schuppen fiel es ihnen allen von den Augen, sich dies einzugestehen, liebe Leute, was wir an Unzulänglichkeit, Feigheit und Schwäche oft genug bei uns selbst feststellen können und was wir bemüht sind, vor uns und vor anderen zu verbergen. Mag sein, dass diese plötzliche Einsicht da draußen an den Monitoren, den Bildschirmen und den Lautsprechern, nur vorübergehend war, und die meisten aus Bequemlichkeit wieder zu ihren alten Gewohnheiten zurückkehrten. Doch im Land Wirsindwer war dem nicht so, und der Vorfall hatte, wie wir gleich erfahren werden, weitreichende Konsequenzen.
Der Kaiser befand sich noch im Zustand der Bewusstlosigkeit, streng genommen, allerdings nicht vom medizinischen Standpunkt aus, nichts Besonderes, als sich die gesamte Ministerrunde, alle im Dienst befindlichen Hof- und Staatsbeamten im Schloss versammelten, um zu beratschlagen, wie sie sich aus der Affäre ziehen könnten, bevor Schlimmeres passierte. Es könnte, welch eine ungeheuerliche, kaum auszudenkende Vorstellung, zu einer Revolution kommen! Ein Umsturz, ein Tumult, Unruhen, Aufruhr, Terror, womöglich Anarchie, Chaos, Gesetzlosigkeit! Kleinlaut, ängstlich und ratlos fanden sie sich im Großen Thronsaal zusammen und waren wieder einmal nicht imstande, sich zu eigenen Entschlüssen durchzuringen; der Kaiser befahl, und sie folgten ihm, so war es stets gewesen, und so sollte es auch bleiben, aber wie? Niedergeschlagen ließen sie die ansonsten hoch erhobenen Köpfe hängen.
Ihre Kopflosigkeit vergrößerte sich durch bedrohliche Geräusche, die durch die dicken Mauern, vorsorglich verschlossenen Portale und Fenster des Schlosses drangen; Stimmengewirr, laute Rufe, fordernde Rufe, die sich Gehör verschaffen wollten, abwechselnd unterbrochen von grausigem, furchteinflößendem Gelächter.
Eine ganze Weile saßen und standen sie nun schon unschlüssig beisammen. Langsam begannen sich trotz der Anspannung, menschliche Bedürfnisse zu regen. Magen und Gaumen wollten ihr Recht, es verlangte sie, die keinerlei Entbehrung gewohnt waren, nach Speis und Trank. Sie wagten nicht, die Glocke nach den Bediensteten zu läuten, denn es hatte sich, was zur allgemeinen Beunruhigung beitrug, von der Dienerschaft noch niemand blicken lassen. Kein gutes Zeichen!
Ihnen wurde in ihrer misslichen und, wie sie befürchteten, ausweglosen Lage Hilfe von einer Seite zuteil, von der sie es am wenigsten erwartet hätten.
Das kaiserliche rote Telefon läutete. Der Höchstkaiserliche Geheime Rat eilte heran, hob mit bebender Hand den Hörer und sagte mit zitternder Stimme: „Ja, bitte, wer da?“ Am anderen Ende meldete sich der Oberarzt des Hochherrschaftlichen Hospitals. Der Geheimrat schaltete auf Mithören, begierig und erwartungsvoll lauschend vernahmen die Anwesenden nun die folgenden Worte:
„Sehr geehrte Herren!“ Die Beteiligung von Damen an Regierungsämtern verstieß zwar nicht gegen die guten Sitten, war aber eher ungebräuchlich, auch eine Quotenregelung war bisher nicht erwogen worden; auch hier sollte sich in Zukunft einiges tun, das sei nur am Rande vermerkt, mag aber für die eine oder andere Leserin von Interesse sein.
Also noch mal von vorne:
„Sehr geehrte Herren! Ich habe Ihnen eine gute Nachricht zu überbringen. Der Kaiser Kokolores ist aus der Ohnmacht erwacht. Der Zustand des Patienten ist soweit stabil, und er befindet sich auf dem Wege der Besserung.“ An dieser Stelle unüberhörbare Seufzer der Erleichterung seitens der Versammelten. Doch der Herr Medizinalrat ist noch nicht zu Ende: „Der Kaiser hat den Wunsch geäußert, unverzüglich ins Schloss zurückzukehren, um persönlich eine Bekanntmachung von schwerwiegender Bedeutung abzugeben. Er bittet alle wichtigen und maßgeblichen Persönlichkeiten des Landes, alle Regierungs- sowie Medienvertreter sich zur Verfügung zu halten, und sobald er es sie wissen lasse, im Schlosse zu erscheinen.“
Was konnte das bedeuten? Verunsichert, achselzuckend, einige händeringend, andere kopfschüttelnd, blickten sie einander an.
Nun, es wurde so verfahren. Der Schlosssaal war gerammelt voll, als schließlich der Kaiser in Krankenhauskleidung, die von einer freundlichen, barmherzigen Seele von Krankenschwester notdürftig aus einigen Laken zusammengeflickt worden war, auf der Bildfläche erschien. Seltsamerweise machte der Kaiser einen geradezu fröhlichen und unbeschwerten Eindruck. Lange hatte man ihn nicht mehr so aufgekratzt gesehen. Kokolores verschmähte den angestammten Platz