„Ich möchte mit Fräulein Holland sprechen.“ Das Lächeln verschwand wie weggewischt. „Ach so.“ Die Schimanowska blickte Kern verächtlich an und begann, heftig mit ihren Nadeln zu klappern.
Ruth Holland hockte auf ihrem Bett. Sie hatte gelesen. Kern sah, dass es das Bett war, an dem er nachts gestanden hatte. Er fühlte plötzlich eine Wärme hinter seiner Stirn. „Kann ich Sie etwas fragen?“ sagte er.
Das Mädchen stand auf und ging mit ihm auf den Korridor. Die Schimanowska ließ ihnen ein Schnauben wie von einem verwundeten Pferd folgen.
„Ich wollte Sie fragen, ob Sie mit ins Kino wollen“, sagte Kern draußen. „Ich habe zwei Karten“, log er hinzu.
Ruth Holland sah ihn an.
„Oder haben Sie etwas anderes vor? Es kann ja sein…“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe nichts vor.“ „Dann kommen Sie doch mit! Wozu wollen Sie den ganzen Abend im Zimmer sitzen?“
„Daran bin ich schon gewöhnt.“
„Um so schlimmer. Ich war nach zwei Minuten schon froh, wieder draußen zu sein. Ich dachte, ich würde aufgefressen.“
Das Mädchen lachte. Sie wirkte plötzlich sehr kindlich. „Die Schimanowska sieht nur so aus. Sie hat ein gutes Herz.“
„Mag sein, aber das sitzt ihr nicht auf den Schultern. Der Film fängt in’einer Viertelstunde an. Wollen wir gehen?“
„Gut“, sagte Ruth Holland, und es schien, als fasse sie damit einen Entschluss.
An der Kasse ging Kern rasch voraus. „Einen Augenblick, ich hole nur die Karten ab. Sie sind hier hinterlegt.“
Er kaufte zwei Billette und hoffte, dass sie nichts gemerkt hatte. Es war ihm gleich darauf aber auch schon egal – die Hauptsache war, dass sie neben ihm saß.
Der Saal wurde dunkel. Die Kasbah[29] von Marrakesch[30] erschien auf der Leinwand, malerisch und von Sonne überflirrt, die Wüste glänzte auf, und der eintönige Klang der Flöten und Tamburine zitterte durch die heiße afrikanische Nacht…
Ruth Holland lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Die Musik fiel über sie wie ein warmer Regen – ein warmer, eintöniger Regen, aus dem sich quälend die Erinnerung hob…
Sie stand am Burggraben von Nürnberg. Es war April. Vor ihr stand in der Dunkelheit der Student Herbert Billing, ein zerknülltes Zeitungsblatt in der Hand.
„Du verstehst, was ich meine, Ruth?“
„Ja, ich verstehe es, Herbert! Es ist leicht zu verstehen.“
Billing zerknitterte nervös das Exemplar des „Stürmer[31]“.
„Mein Name als Judenknecht in der Zeitung! Als Rassenschänder! Das ist der Ruin, verstehst du?“
„Ja, Herbert.“
„Ich muss sehen, wie ich da ’rauskomme. Meine ganze Karriere steht auf dem Spiel. In der Zeitung, das liest jeder, verstehst du?“
„Ja, Herbert. Mein Name steht auch in der Zeitung.“
„Das ist ganz was anderes! Was kann dir das ausmachen? Du darfst doch sowieso nicht mehr zur Universität.“
„Du hast recht, Herbert.“
„Also Schluss, nicht wahr? Wir sind getrennt und haben nichts mehr miteinander zu tun.“
„Nichts mehr. Und nun leb wohl.“
Sie drehte sich um und ging.
„Warte – Ruth – hör doch, einen Moment!“
Sie blieb stehen. Er kam heran. Sein Gesicht war so dicht vor ihr in der Dunkelheit, dass sie seinen Atem spürte. „Hör zu“, sagte er. „Wo gehst du jetzt hin?“
„Nach Hause.“
„Du brauchst doch nicht gleich…“ Er atmete stärker. „Es ist natürlich alles abgemacht, nicht wahr? Das bleibt dann so! Aber du könntest doch… wir könnten… gerade heute abend ist keiner bei mir zu Hause, verstehst du, und wir würden nicht gesehen.“ Er fasste nach ihrem Arm. „Wir brauchen uns ja nicht gerade so zu trennen, so formell meine ich, wir könnten doch noch einmal…“
„Geh!“ sagte sie. „Sofort!“
„Aber sei doch vernünftig, Ruth.“ Er nahm sie um die Schulter.
Sie sah das hübsche Gesicht, das sie geliebt und dem sie gedankenlos vertraut hatte. Dann schlug sie hinein. „Geh!“ schrie sie, während ihr die Tränen herunterstürzten. „Geh!“
Billing zuckte zurück. „Was? Schlagen? Mich schlagen? Du dreckige Judensau willst mich schlagen?“
Er machte Miene, sich auf sie zu stürzen.
„Geh!“ schrie sie gellend.
Er sah sich um. „Halt den Mund!“ zischte er. „Willst mir wohl noch Leute auf den Hals hetzen, was? Könnte dir so passen! Ich gehe, jawohl, ich gehe! Gott sei Dank, dass ich dich los bin!“
„Quand l’amour meurt[32]“, sang die Frau auf der Leinwand mit ihrer dunklen Stimme durch den Lärm und Rauch des marokkanischen Cafés. Ruth Holland strich sich über die Stirn.
Das andere war wenig dagegen. Die Angst der Verwandten, bei denen sie wohnte – das Drängen des Onkels, abzureisen, damit er nicht hineingezogen würde – der anonyme Brief, in dem ihr mitgeteilt wurde, wenn sie nicht in drei Tagen verschwunden sei, werde man sie auf einem Wagen, mit Schildern auf Brust und Rücken und abgeschnittenem Haar als Rassenschänderin durch die Stadt füh-ren – der Besuch am Grabe ihrer Mutter – der nasse Morgen vor dem Kriegerdenkmal, von dem man den Namen ihres Vaters, der 1916 in Flandern gefallen war, abgekratzt hatte, weil er Jude war – und dann die hastige, einsame Fahrt mit den paar Schmuckstücken ihrer Mutter über die Grenze nach Prag…
Die Flöten und Tamburine setzten auf der Leinwand wieder ein. Darüber hinweg wehte der Marsch der Fremdenlegionäre – die eiligen, erregenden Rufe der Clairons über den Kompanien der in die Wüste ziehenden Kämpfer ohne Heimat und Vaterland.
Kern beugte sich zu Ruth Holland hinüber. „Gefällt es Ihnen?“
„Ja…“
Er griff in die Tasche und schob ihr eine kleine flache Flasche hinüber. „Eau de Cologne[33]“, flüsterte er. „Es ist heiß hier. Vielleicht erfrischt es Sie etwas.“
„Danke.“
Sie schüttelte ein paar Tropfen auf ihre Hand. Kern sah nicht, dass sie plötzlich Tränen in den Augen hatte.
„Danke“, sagte sie noch einmal.
Steiner saß zu zweitenmal im Café Hellebarde. Er schob dem Kellner einen Fünfschillingschein hin und bestellte einen Kaffee.
„Telefonieren?“ fragte der Kellner.
Steiner nickte. Er hatte noch einige Male mit wechselndem Glück in anderen Lokalen gespielt und besaß jetzt etwa fünfhundert Schilling.
Der Kellner legte ihm einen Pack Journale hin und ging. Steiner griff nach einer Zeitung und begann zu lesen. Aber er legte sie bald wieder beiseite; es interessierte ihn wenig,“ was in der Welt los war. Für jemand, der unter Wasser schwamm, gab es nur eins: wieder hochzukommen… es war ihm gleich, was die Fische für Farben hatten.
Der Kellner brachte den Kaffee und stellte ein Glas Wasser dazu. „Die Herren kommen in einer Stunde.“
Er blieb am Tisch stehen. „Schönes Wetter heute, was?“ fragte er nach einiger Zeit.
Steiner nickte und starrte auf die Wand, an der eine Aufforderung hing,