Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке. Генрих Бёлль. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Генрих Бёлль
Издательство: КАРО
Серия: Originallektüre Deutsch
Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 2007
isbn: 978-5-89815-936-8
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zehn Mark hättest du sparen können, ich hätte dir tausendmal mehr – und unentgeltlich – erzählen können als dieser kleine Schwindler hier. Auskunftsbüro Argus. ‚Anbei die gewünschte Auskunft über Herrn Architekten Dr. Robert Fähmel, wohnhaft Modestgasse 8. Dr. Fähmel ist zweiundvierzig Jahre alt, verwitwet, zwei Kinder. Sohn: 22, Architekt, nicht hier wohnhaft. Tochter: 19, Schülerin. Vermögen des Dr. F: erheblich. Mütterlicherseits mit den Kilbs verwandt. Nichts Nachteiliges zu erfahren.“ Jochen kicherte: „Nichts Nachteiliges zu erfahren! Als ob über den jungen Fähmel je etwas Nachteiliges zu erfahren gewesen wäre, und über den wird es niemals etwas Nachteiliges zu erfahren geben. Das ist einer von den wenigen Menschen, für die ich jederzeit meine Hand ins Feuer legen würde, hörst du, hier meine alte, korrupte, rheumaverkrümmte Hand. Mit dem kannst du den Jungen getrost allein lassen, der ist nicht von der Sorte – und wenn er von der Sorte wäre, würde ich nicht einsehen, dass man ihm nicht gestattet, was man schwulen Ministern gestattet – aber der ist nicht von der Sorte, der hat schon mit zwanzig ein Kind gehabt, von der Tochter eines Kollegen, vielleicht erinnerst du dich an ihn, den Schrella, der einmal ein Jahr hier gearbeitet hat. Nein? Du warst wohl damals noch nicht hier. Ich sag dir nur: lass den jungen Fähmel in Frieden Billard spielen. Feine Familie. Wirklich. Rasse. Ich hab seine Großmutter noch gekannt, seinen Großvater, seine Mutter und seine Onkel; die haben hier vor fünfzig Jahren schon Billard gespielt. Die Kilbs, das weißt du wohl nicht, wohnen seit dreihundert Jahren in der Modestgasse, wohnten – es gibt keine mehr. Seine Mutter ist übergeschnappt, hatte zwei Brüder verloren, und drei Kinder waren ihr gestorben. Sie kam nicht drüber weg. Das war eine feine Frau. Eine von den Stillen, weißt du. Die aß nicht einen Krümel mehr, als es auf Lebensmittelkarten gab, nicht ’ne Bohne, und gab auch ihren Kindern nicht mehr. Verrückt. Sie schenkte alles weg, was sie extra bekam, und die bekam viel: die besaßen Bauernhöfe, und der Abt von Sankt Anton, da unten im Kissatal, der schickte ihr Butter in Fässern, Honig in Krügen, schickte ihr Brot, aber sie aß nichts davon und gab ihren Kindern nichts davon; die mussten das Sägemehlbrot essen und gefärbte Marmelade drauf, während ihre Mutter alles wegschenkte; sogar Goldstücke teilte sie aus; ich hab’s selber gesehen, wie sie – das muss sechzehn oder siebzehn gewesen sein – mit den Broten und dem Honigkrug aus der Haustür kam. Honig 1917! Kannst du dir das vorstellen? Aber ihr habt ja alle kein Gedächtnis, könnt euch nicht vorstellen, was das bedeutete: Honig 1917 und Honig im Winter 41/42, und wie sie zum Güterbahnhof lief und drauf bestand, mit den Juden wegzufahren. Verrückt. Sie sperrten sie ins Irrenhaus, aber ich glaub nicht, dass sie verrückt ist. Das ist eine Frau, wie du sie nur im Museum auf den alten Bildern sehen kannst. Für deren Sohn lass ich mich in Stücke schneiden, und wenn der nicht aufs Zuvorkommendste bedient wird, gibt es Krach hier in der Bude, und wenn fünfundneunzig alte Weiber nach Hugo fragen, und er will den Jungen bei sich haben, dann kriegt er ihn. Auskunftsbüro Argus. Diesen Idioten zehn Mark zu zahlen. Du bringst wohl noch fertig, mir zu sagen, dass du seinen Vater nicht kennst, den alten Fähmel, wie? Gratuliere, du kennst ihn also und bist nie auf die Idee gekommen, dass es der Vater von dem sein könnte, der oben Billard spielt. Nun, den alten Fähmel kennt ja wohl jedes Kind. Der kam hier vor fünfzig Jahren mit ’nem gewendeten Anzug von seinem Onkel an, hatte ein paar Goldstücke in der Tasche und hat hier, hier im Prinz Heinrich schon Billard gespielt, da wusstest du noch nicht, was ein Hotel ist. Ihr seid Portiers! Lass den da oben mal in Ruhe. Der macht keinen Unsinn, richtet keinen Schaden an, der wird höchstens mal überschnappen auf die stille Tour. Der war der beste Schlagballspieler, der beste Hundertmeterläufer, den wir hier in der Stadt je gehabt haben, der war zäh, und wenn es drauf ankam, hart; der konnte Unrecht nicht ertragen, und wenn du Unrecht nicht ertragen kannst, bist du bald in der Politik drin; mit neunzehn war er drin; den hatten sie geköpft oder für zwanzig Jahre eingesperrt, wenn er ihnen nicht durchgegangen wäre. Ja, guck mich nur an; er kam davon und blieb drei oder vier Jahre draußen – ich weiß nicht genau, was da los war, hab’s nie erfahren, ich weiß nur, dass der alte Schrella drin verwickelt war, auch die Tochter, mit der er dann später das Kind hatte; er kam zurück, und sie rührten ihn nicht an; er wurde Soldat bei den Pionieren, ich seh ihn noch vor mir, wenn er in seiner Uniform mit der schwarzen Paspelierung in Urlaub kam. Guck mich nicht so blöde an. Ob der mal Kommunist war? Ich weiß nicht, ob er’s war – aber wenn schon: jeder anständige Mensch ist das mal gewesen. Los, geh frühstücken, ich werd mit den alten Ziegen schon fertig.“

      Unheil oder Laster; sie lagen in der Luft, aber Jochen war immer zu harmlos gewesen, hatte nie Selbstmord gewittert und es nie geglaubt, wenn verstörte Gäste die Stille des Todes hinter verschlossenen Zimmertüren von der Stille des Schlafs zu unterscheiden gewusst hatten; der tat korrupt und gerieben und glaubte doch an die Menschen.

      „Na, meinetwegen“, sagte der Portier, „ich geh zum Frühstück. Dass du nur niemand zu ihm rauflässt, da legt er Wert drauf. Hier.“ Er legte Jochen die rote Karte auf die Theke: ‚Zu sprechen nur für meine Mutter, meinen Vater, meine Tochter, meinen Sohn und Herrn Schrella – für niemanden sonst.‘

      Schrella? dachte Jochen erschrocken, lebt der denn noch? Den haben sie doch damals umgebracht – oder hatte er einen Sohn?

      Dieses Aroma schlug alles tot, was in der Halle in den letzten vierzehn Tagen geraucht worden war, dieses Aroma trug man vor sich her wie eine Standarte: hier komm ich, der Bedeutende, der Sieger, dem keiner widersteht; einsneunundachtzig, grauhaarig, Mitte vierzig, Anzugstoff: Regierungsqualität; so waren Kaufleute, Industrielle, Künstler nicht gekleidet, das war beamtete Eleganz, Jochen roch es; das war Minister, Gesandter, unterschriftsträchtig mit fast gesetzlicher Kraft; das drang ungehindert durch gepolsterte, stählerne, blecherne Vorzimmertüren, räumte mit seinen Schneepflugschultern alle Hindernisse weg, strahlte liebenswürdige Höflichkeit aus, der man doch anmerkte, dass sie angelernt war, ließ der Oma den Vortritt, die eben ihren ekligen Köter wieder aus Erichs, des zweiten Boys, Hand entgegennahm, half sogar dem grabentstiegenen Skelett, das Treppengeländer erreichen und umfassen. „Gern geschehen, gnädige Frau.“

      „Nettlinger.“

      „Womit kann ich dienen, Herr Doktor?“ – „Ich muss Herrn Dr. Fähmel sprechen. Dringend. Sofort. Dienstlich.“

      Kopfschütteln, sanfte Verneinung, während er mit der roten Karte spielte. Mutter, Vater, Sohn, Tochter, Schrella. Nettlinger nicht erwünscht.

      „Aber ich weiß, dass er hier ist.“

      Nettlinger? Hab ich den Namen nicht schon mal gehört? Das ist so ein Gesicht, bei dem mir was einfallen müsste, was ich nicht vergessen wollte. Ich habe den Namen schon gehört, vor vielen Jahren, und mir damals gesagt: den musst du dir merken, vergiss ihn nicht, aber nun weiß ich nicht mehr, was ich mir merken wollte. Auf jeden Fall: Vorsicht. Dir würde speiübel, wenn du wusstest, was der alles schon gemacht hat, du würdest bis an dein seliges Ende nicht aufhören können zu kotzen, wenn du den Film ansehen müsstest, den der am Tag des Gerichts vorgespielt bekommt: den Film seines Lebens; das ist so einer, der Leichen die Goldzähne ausbrechen, Kindern das Haar abschneiden lässt. Unheil oder Laster? Nein, Mord lag in der Luft.

      Und diese Leute wussten nie, wann ein Trinkgeld angebracht war; nur daran konnte man Klasse erkennen; jetzt wäre der Augenblick vielleicht für eine Zigarre gewesen, aber nicht für Trinkgeld, und keinesfalls für ein so hohes: den grünen Zwanziger, den er grinsend über die Theke schob. Wie dumm die Leute sind. Kennen nicht die primitivsten Gesetze der Menschenbehandlung, nicht die einfachsten Gesetze der Portierbehandlung; als wenn im Prinz Heinrich ein Geheimnis überhaupt zu verkaufen wäre; als wenn ein Gast, der vierzig oder sechzig fürs Zimmer zahlt, um einen grünen Zwanziger zu haben wäre; zwanzig von einem Unbekannten, dessen einziger Ausweis seine Zigarre und sein Anzugstoff ist. Und so was wurde dann Minister, vielleicht Diplomat und kannte nicht einmal das kleine Einmaleins der schwierigsten aller Künste, der Bestechung. Betrübt schüttelte Jochen den Kopf, ließ den grünen Schein unberührt. Voll ist ihre Rechte von Geschenken.

      Kaum zu glauben: dem grünen Schein wurde ein blauer hinzugelegt, das Angebot auf dreißig erhöht, eine dicke Wolke Partagas-Eminentes-Duft in Jochens Gesicht gepustet.

      Blas du nur, puste mir nur deinen Viermarkzigarrenrauch ins Gesicht, und leg noch ’nen violetten Schein hinzu. Jochen ist nicht zu kaufen. Nicht für dich und nicht für dreitausend; ich hab nicht viele