Hendrik konnte sich nicht verhehlen, dass die Frau an seiner Seite ihm Eindruck machte. Ohne Frage, sie war die erste, seitdem er Juliette kannte, für die er einen beteiligten, interessierten Blick hatte. Er beichtete es der Schwarzen Venus noch am selben Tage und bekam furchtbare Schläge – die diesmal nicht aus rituellen Gründen und weil es so zum Spiel gehörte verabreicht wurden, sondern aus Überzeugung und mit echter Leidenschaft; denn Prinzessin Tebab ärgerte sich. Hendrik litt, stöhnte, genoss und versicherte am Ende seiner Prinzessin, dass sie die eigentliche Herrin und Geliebte bleiben würde. Als er aber Nicoletta wiedersah, faszinierten ihn wieder ihre schneidende Sprechweise, ihr blanker, durchdringender Blick und ihre stolz zusammengenommene Haltung.
Es gefiel ihm auch, was sie ihm in präziser Sprache über ihre Herkunft und Vergangenheit anvertraute. Ihm imponierte das Exzentrische, Abenteuerlich-Fragwürdige, da er selbst aus den bürgerlichsten Verhältnissen kam. Nicoletta erzählte, dass sie ihre Eltern nicht gekannt habe. „Mein Papa war ein Hochstapler“, konstatierte sie erhobenen Hauptes, fröhlich und stolz. „Mama ist eine kleine Tänzerin an der Pariser Oper gewesen, sehr dumm, wie ich höre; aber sie soll die himmlischsten Beine gehabt haben.“ Sie blickte herausfordernd auf ihre eigenen, mit denen sie nur angab, als wären sie himmlisch. „Papa war ein Genie. Immer verstand er es, auf größtem Fuß zu leben. Er ist in China gestorben, wo er siebzehn Teehäuser und enorme Schulden hinterließ. Das einzige Andenken, das ich an ihn besitze, ist seine Opiumpfeife.“ In ihrem Hotelzimmer wies sie Hendrik die Reliquie vor. Mit einer Korrektheit, hinter der man lauter Teufelei vermuten musste, fragte sie ihn, ob er Tee haben wollte oder Kaffee. Die Bestellung rief sie durch das Telefon dem Kellner zu wie einen fürchterlichen, mit eisiger Mitleidlosigkeit vorgebrachten Urteilsspruch. Dann erzählte sie ausführlich von ihrer Jugend. „Gelernt habe ich gar nicht viel“, sagte sie. „Aber ich kann auf den Händen gehen, auf einer rollenden Kugel laufen und wie eine Eule schreien.“ Ihre Fibel sei die sehr empfehlenswerte Zeitschrift „La Vie Parisienne“ gewesen. Aufgewachsen war sie teils in französischen Internaten, aus denen man sie wegen fürchterlicher Ungezogenheit stets bald wieder entfernt hatte; teils im Hause des Geheimrats Bruckner, den sie einen Jugendfreund ihres Vaters nannte.
Vom Geheimrat Bruckner hatte Höfgen schon gehört. Die Werke des Historikers waren berühmt; übrigens kannte Hendrik sie nicht. Hingegen wusste er, dass des Geheimrats gesellschaftliche Stellung ebenso bedeutend wie ungewöhnlich war. Der Forscher und Denker war nicht nur eine der exponiertesten und meistbesprochenen Figuren der deutschen und europäischen akademisch-literarischen Welt; man sagte ihm auch intime und einflussreiche Verbindungen zu politischen Kreisen nach. Seine Freundschaft mit. einem sozialdemokratischen Minister war bekannt; andererseits hatte er Beziehungen zur Reichswehr: seine verstorbene Frau war die Tochter eines Generals gewesen. Viel Anlass zu Kommentaren hatte eine Vortragstournee des Geheimrats durch Sowjetrussland gegeben. Damals war von der nationalistischen Presse die große Hetze gegen ihn eröffnet worden. Seitdem stellte man gerne mit Erbitterung fest, die Geschichtsbetrachtung Bruckners sei marxistisch beeinflusst. Es geschah, dass die Studenten lärmten, als er das Katheder betrat. Seine Weltgeltung und seine ruhige, überlegene Haltung schüchterten die Aufgeregten ein. Der Geheimrat ging siegreich hervor aus den Skandalen. Er blieb unantastbar.
„Der Alte ist wundervoll“, sagte Nicoletta von ihm. „Er versteht auch etwas von Menschen; an Papa zum Beispiel hatte er eine große Anhänglichkeit. Deshalb ließ er sich von mir immer alles gefallen – und ich meinerseits hatte Geduld mit seiner feinen Langweiligkeit.“
Nicolettas beste Freundin, ihre eigentliche Schwester, war Barbara, Bruckners Tochter. „Ein so schönes Geschöpf! Und so gut!“ Nicolettas Blick wurde weicher, während sie dies sagte; aber auf die klirrend exakte Aussprache konnte sie nicht verzichten. – Zu der „Knorke“-Premiere wurde nicht nur Theophil Marder erwartet, sondern auch das Mädchen Barbara. „Ich bin neugierig, ob du sie mögen wirst“, sagte Nicoletta zu Hendrik. „Vielleicht liegt sie dir nicht besonders. Aber sei bitte nett zu ihr, mir zu Gefallen. – Sie ist etwas scheu“, stellte Nicoletta fest und schmetterte die Vokale.
Am Tag der großen Premiere traf Barbara Bruckner ein; Marder kam erst gegen Abend, mit dem Berliner Schnellzug. Höfgen machte Barbaras Bekanntschaft, als er, unmittelbar vor Beginn der Vorstellung, einen Kognak in der Kantine trank. Nicoletta sprach mit musterhafter Deutlichkeit und greller Stimme: „Dieses ist meine liebste Freundin, Barbara Bruckner!“ – wozu sie eine zeremonielle Geste unter dem schwarzen, steif plissierten Cape vollführte. Hendrik war zu aufgeregt, um sich das junge Mädchen genauer zu betrachten. Er stürzte seinen Kognak hinunter und verschwand. In der Garderobe fand er zwei große Blumensträuße: weißen Flieder von Angelika Siebert, und von der Herzfeld zart teegelb getönte Rosen. Um sich durch ein gutes Werk die Gunst des Himmels zusichern, überreichte Höfgen dem kleinen Bock – der vor Premieren stets etwas weinerlich aussah – mit großer Geste fünf Mark, wodurch freilich die Sieben-Mark-fünfzig-Schuld noch immer nicht völlig getilgt war.
Die Uraufführung der Komödie „Knorke“ verlief glänzend: Marders beißende Pointen schlugen knallend ein, die steile Führung des Dialogs kitzelte das Publikum zu halb entsetzten, halb beglückten Gelächtern, vor allem aber begeisterte das exakte, schnoddrig-pathetische, in jeder Hinsicht blendende Zusammenspiel zwischen Höfgen und der neuen Kraft, Nicoletta von Niebuhr, die „auf Engagement gastierte“. Nach dem zweiten Akt mussten die beiden Hauptdarsteller sich dem animierten Saal häufig zeigen. In der Pause erschien Theophil Marder bei Höfgen, Nicoletta geleitete ihn.
Marders unruhiger, aber durchdringender Blick musterte alle Gegenstände in der Garderobe, zuletzt Hendrik selbst, der erschöpft vorm Spiegel saß. Nicoletta war, respektvoll schweigend, an der Tür stehengeblieben. Nach langer Pause sagte Marder mit. einer penetranten Kommandostimme: „Sie sind ja ’ne dolle Type!“ Seine grausam fixierenden Augen wichen nicht von Hendriks schön geschminktem Gesicht.
„Sind Sie zufrieden, Herr Marder?“ Höfgen suchte den Satiriker durch Juwelenblicke und angegriffenes Lächeln zu bezaubern. Theophil aber sagte: „Na ja…“ und fügte unverschämt hinzu; „Na ja, Herr – wie war doch der Name?“ Nun war Hendrik doch etwas beleidigt; trotzdem nannte er seinen Namen mit der singendwerbenden Stimme. Daraufhin machte Marder: „Hendrik – Hendrik – ulkiger Name, muss ich schon sagen, sehr ulkig!“: so höhnisch, dass es Höfgen eisig über den Rücken lief. Plötzlich aber rief der Dichter mit einer beängstigenden Fröhlichkeit: „Hendrik! Wieso Hendrik?! Natürlich heißen Sie eigentlich Heinz! – Heißt eigentlich Heinz, nennt sich Hendrik! Hahaha, das ist aber mal gut!“ Er lachte gellend, herzlich und ausführlich. Höfgen, aus Entsetzen über so viel böse Hellsicht, war bleich geworden unter seiner rosigen Maske und zitterte. Nicoletta, ohne einzugreifen, schaute mit blanken Katzenaugen amüsiert vom einen zum andern. Theophil war schon wieder ernst. Er schien nachzudenken; dabei bewegte er ununterbrochen den bläulichen Mund unter dem schwarzen Schnurrbart. Das erregte Spiel seiner Lippen erinnerte auf eine unheimliche Art an das gierige Saugen fleischfressender Pflanzen oder schnappender Fischmäuler. Abschließend sagte Marder: „Sind aber ’ne dolle Type. Starkes Talent – rieche das, habe verdammt feine Nase. Sprechen uns noch. Essen nachher zusammen. Komm, Kind!“ Er nahm Nicoletta am Arm und verließ die Garderobe. Höfgen blieb im Zustand völliger Konsterniertheit zurück.
Er gewann seine Fassung erst wieder, als er auf der Bühne und im Rampenlicht stand – dort freilich völlig. Im dritten Akt übertraf er alles, was er an bravourösem Elan bis dahin jemals öffentlich gezeigt hatte. Das Auditorium raste, nachdem der Vorhang gefallen war. Nicoletta, die Arme voll Blumen, fiel Höfgen um den Hals und sagte: „Theophil hat wieder mal das rechte Wort gefunden! Du bist wirklich eine tolle Type!“ Kroge trat hinzu, um Anerkennendes zu murmeln. Er versicherte Fräulein von Niebuhr, dass es ihm ein Vergnügen sein werde, weiter mit ihr zu arbeiten; sie möchte sich morgen vormittag ins Büro bemühen, damit man die Bedingungen bespreche. Nicoletta machte sofort ihr hinterhältig-korrektes Gesicht, verneigte sich feierlich und gab in scharfen Worten ihrer Befriedigung über diesen Entschluss des Direktors Ausdruck.
Theophil Marder hatte die beiden jungen Damen und den Schauspieler Höfgen in ein sehr teures, mehr bürgerlich-solides