„Wölfe –“
„Richtik, kommen Wölfe, heulen und laufen hinter Troika herr. Wölfen werden immer gieriker und Pfarrer – was thun? Kann sich nicht helfen, was thut, wirft seine Kinder die Wölfe vor. Eins, zwei, drei Kinder, immer in große Wekstrecke, bis am Ziel war.“ Der Pole sah sich herausfordernd um. „Das ist wahr, bei meine Seel,“ beteuerte er, als ein Gelächter, das vom Doktor ausging und alle anderen ansteckte, ihn unterbrach. Nur Mely lachte nicht.
„Was will das heißen,“ keuchte Dr. Brosam in verhaltenem Lachen. „Die Chinesen werfen ihre Kinder den Schweinen vor. Allerdings neugeboren, da sind sie zarter.“
„Nun, bei uns werden die Schweine den Kindern vorgeworfen,“ meinte Helene trocken und freute sich, als das Gelächter von neuem begann.
„Da giebt es noch viel merkwürdigere Sachen,“ hob der Doktor wieder an, und sein schönes, bleiches Gesicht wurde sehr ernst. „Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte von dem normannischen Fischer kennen, dessen Großmutter ins Wasser gefallen war. Als er die Leiche auffand, sah er, daß sich Krebse daran festgesetzt hatten. Seitdem benutzt er seine tote Großmutter zum Krebsfang.“
„Entsetzlich – pfui! Wie können Sie so etwas erzählen!“ stöhnte Fräulein von Erdmann.
Der Pole war wütend und empfahl sich bald. Mely entging es nicht, daß er einen glühenden, fragenden Blick auf sie gerichtet hatte und sie zog die Brauen zusammen. Schutzlos bin ich diesen Leuten preisgegeben, dachte sie.
„Was haben Sie denn,“ wandte sich Frau Bender an sie. „Sie sind so beklommen heute, so ganz abwesend, so verstört –“ Die kleine Dame hatte etwas Kindliches und Bestechendes in ihrem Wesen, das Jeden gefangen nahm.
Mely errötete tief. Sie wollte antworten, doch Dr. Brosam nahm für sie das Wort. „Ja, ich glaube, das gnädige Fräulein ist sehr launisch. Die meisten Damen sind so. Meine verstorbene Braut hatte nichts von dieser modernen Sucht, möglichst wetterwendisch zu scheinen.“
Mely lachte so hart, daß sie selbst darüber erschrak. „Ihre verstorbene Braut war halt ein Tugendspiegel,“ entgegnete sie achselzuckend.
„Ja, allerdings,“ rief der Doktor heftig und mit flammenden Augen. Er richtete sich würdevoll auf und ließ seine kostbaren Brillanten in den Strahlen der Lampe spielen. Die Erdmann blickte entzückt an dem Hünen empor.
„Das ist ja schön,“ spottete Mely. „Aber weshalb erzählen Sie das immer wieder? Das interessirt uns ja gar nicht. Wir fühlen uns ganz wohl, wenn wir auch nicht so tugendhaft sind.“
„Bitte sehr!“ rief Fräulein von Erdmann entrüstet und warf giftig den Kopf zurück.
Mely verlor alle Zurückhaltung, alle Fassung. „War sie vielleicht auch eine Demokratin, diese verstorbene Braut? War sie auch für die Vermögensteilung?“ Sie sprach rasch, voll Haß und Wildheit. Wie sehr mußte sie im Grund ihrer Seele verzweifelt sein, um so leidenschaftlich zu disputiren.
„Wie Sie sagen, genau wie ich!“ antwortete der Doktor sanft. Er preßte seine Lippen zusammen, daß sie nur eine einzige gerade Linie bildeten.
Mely lachte wieder. „Dann trug sie vielleicht auch einen Brillantring für achtzehnhundert Mark? So viel kostet er doch, haben Sie gesagt. Und ging sie auch zu Schleich, um für sieben Mark zu frühstücken, wie Sie immer von sich erzählen –? Wie kann jemand, der so prahlt mit dem, was er hat, Demokrat sein wollen!“
Noch viel sanfter als vorhin erwiderte der Doktor: „Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein, meine verstorbene Braut nicht mehr zu erwähnen. Ich will diesen trauten Namen von solchen Lippen nicht nennen hören. Sie mögen wohl vorhin recht gehabt haben mit der Tugend – ja! Man kann gesund sein ohne Tugend, jawohl! Aber gerade Sie wissen ja auch, wie die Welt dann urteilt!“
„Herr Doktor!“ schrie Frau Bender empört und schlug mit der Faust auf den Tisch. Helene erhob sich und ging zum Fenster. Der Doktor saß leichenblaß da und strich sich unaufhörlich das reiche Künstlerhaar zurück.
Mely sah ihm entsetzt in die Augen, – so sehr fassungslos, daß Fräulein von Erdmann eine mitleidige Handbewegung machte. Dann stand sie auf und sagte mit erstickter Stimme: „Frau Bender –.“ Es war ein Hilferuf. Aber ohne sich umzublicken, eilte sie aus dem Zimmer.
Im Korridor saß die Hauskatze auf einem Stuhl und putzte sich. Dann begegnete Mely Vidl Falk, der an seiner Thür stehen blieb, um sie vorbeizulassen. Er grüßte, doch beachtete sie ihn nicht, und er schaute ihr nach mit einem zweifelnden und verwunderten Blick.
In ihrem Zimmer setzte sie sich ans Fenster und blieb unbeweglich sitzen. Sie sah hinaus in die dunkle Novembernacht, auf die regenglänzende Straße und auf die sturmgepeitschten Bäume des Gartens. Sie schauerte zusammen und dachte: wenn ich doch meinen Shawl hätte. Dabei hätte sie nur aufstehen und zum Sofa gehen brauchen, wo er lag. Wie schön haben es andere Mädchen, sinnirte sie; sie verlieben sich und verheiraten sich. Dann sind sie glücklich. Aber sie sehnte sich durchaus nicht nach dem, was man Liebe nennt, – ganz im Gegenteil. Dies Gefühl hatte sie bisher in so abschreckender Gestalt auftreten sehen, daß sie nur Geringschätzung dafür hatte. Nur der Wunsch, beschützt zu werden, lebte in ihr, und dann zwei Empfindungen: die der Verlassenheit und eine nagende Reue.
Es klopfte und Frau Bender trat ein. „Warum machen Sie denn kein Licht, Fräulein Mirbeth?“ rief sie erschrocken. Sie sah nur einen regungslosen Schatten am Fenster und ging darauf zu. Sie nahm Melys Hand und sagte herzlich: „Es thut mir so leid, Sie können mir’s gar nicht glauben. Nein, so gemein, so gemein! Regen Sie sich nur nicht auf. Ich habe ihm schon gekündigt, und morgen wird er ausziehen. Jetzt kommen Sie mit und trinken noch ein Glas Punsch mit mir und Helene.“
Mely schüttelte den Kopf. „Nein, ach nein, heute nicht.“ Dann sagte sie leise und preßte die Hand der vor ihr Stehenden: „Frau Bender, es ist schrecklich, daß er das gesagt hat. O, ich schäme mich so sehr, ich schäme mich. Alle Leute glauben es, ich weiß. Aber es ist mir egal, alles ist mir jetzt gleich. Raten Sie mir, Frau Bender, was soll ich thun? Ich – –“ Sie stockte, und trotz der Dunkelheit wandte sie sich ab.
Frau Bender tröstete in ihrer weichen, hinreißenden Art. Sie mußte nicht nach Worten suchen, sondern sie flossen natürlich und eindringlich von ihren Lippen. Doch Mely wurde dadurch nicht beruhigt. Je mehr die kleine Frau sprach, desto erregter wurde Mely. Die Leiden, die sie in sich verschlossen halten mußte, drückten ihr das Herz ab; denn sie hatte den Trieb, sich mitzuteilen. Frau Bender irrte auf ihr eigenes Leben ab, ja, sie verlor sich in Jugenderinnerungen. Sie vergaß, wo sie war, und berichtete mit feuriger Hingabe von ihrem Elternhaus, von ihrer Heirat und von der Flucht ihres Mannes nach Amerika. Schließlich erging sie sich in so heftigen Klagen, daß sich nun Mely genötigt sah, zu trösten und zu ermutigen. „Kommen Sie, Frau Bender, wir wollen vorgehen. Ich will noch bei Ihnen bleiben,“ sagte sie, ihren Vorsatz vergessend.
„Ja, ja, trinken wir, ich werde einen famosen Punsch brauen,“ entgegnete die kleine zapplige Dame, plötzlich heiter werdend.
Als sie im Korridor vor der Thüre des Fräuleins von Erdmann vorbeigingen, hörten sie pathetische Worte: „Ja, lieber Doktor, das ist der blutige Hohn meines Lebens! Er schleicht hinter mir her und wird mich verschlingen. Bitte, – nein, bleiben Sie noch, Sie wissen ja, wie Sie mich beglücken, mit diesen Genieaugen, Sie Abscheulicher!“
Die Lauscherinnen verschlossen beide den Mund mit den Händen, um nicht herauszuplatzen. Dann flohen sie auf den Zehen.
Mely lachte viel und übermäßig in den zwei Stunden, die sie noch mit den Damen vom Haus verbrachte. Ja, sie trieb zum Schluß Narrenspossen, und sie schien alles vergessen zu haben, was über sie ergangen war. Sie war begeistert für diese gewinnende, gutherzige Frau Bender und diese zutrauliche, kluge Helene. Bessere Menschen giebt es gar nicht, dachte sie sich.
V
Am andern Morgen, es war ein Samstag,