Ein solcher Quester-Held, erklärt der Verfasser – und erklärt er es nicht mit Recht? – ist auch Hans Castorp. Der Gral-Quester insbesondere, Perceval, wird im Beginn seiner Wanderun-gen gern als "Fool", "Great Fool", "Guilless fool" bezeichnet. Das entspricht der "Einfachheit", Simplizität und Schlichtheit, die dem Helden meines Romanes beständig zugeschrieben wird – so als ob ein dunkles Überlieferungsgefühl mich gezwungen hätte, auf dieser Eigenschaft zu bestehen. Ist nicht auch Goethes Wilhelm Meister ein guilles fool, zwar in hohem Maße iden-tisch mit dem Autor, dabei aber stets das Objekt seiner Ironie? Man sieht hier Goethes großen Roman, der zu der hohen As-zendenz des "Zauberbergs" gehört, ebenfalls in der Traditions-reihe der Questerlegends. Und was ist denn wirklich der deutsche Bildungsroman, zu dessen Typ der "Wilhelm Meister" so-wohl wie der "Zauberberg" gehören, anderes, als die Sublimie-rung und Vergeistigung des Abenteuerromans? Der Gral-Quester muß sich, bevor er den heiligen Berg erreicht, einer Reihe von schrecklichen und geheimnisvollen Proben unterziehen in einer Kapelle am Wege, die der "Atre Périlleux" heißt. Wahr-scheinlich waren diese abenteuerlichen Prüfungen ursprünglich luitiations-Riten, Bedingungen der Annäherung an das esoteri-sche Geheimnis, und immer ist die Idee des Wissens, der Erkenntnis verbunden mit der "other world", mit Tod und Nacht. Viel ist im "Zauberberg" von einer alchimistisch-hermetischen Pädagogik, von "Transsubstantiation" die Rede; und wieder war ich, ein guilles fool ich selber, von einer geheimen Tradition geleitet, denn das sind dieselben Worte, die im Zusammenhang mit den Gral-Mysterien immer wieder angewandt werden. Nicht umsonst auch spielen die Freimaurerei und ihre Myste-rien so stark in den "Zauberberg" hinein, denn die Maurerei ist der direkte Abkömmling der alten Initiationsriten. Mit einem Worte, der "Zauberberg" ist eine Abwandlung des Tempels der Initiation, eine Stätte gefährlicher Forschung nach dem Geheim-nis des Lebens, und Hans Castorp, der "Bildungsreisende", hat eine gar vornehme, mystisch-ritterliche Ahnenschaft: er ist der typische, im höchsten Sinne neugierige Neophyt, der freiwillig, nur zu freiwillig, Krankheit und Tod umarmt, weil gleich seine erste Berührung mit ihnen ihm das Versprechen außeror-dentlichen Verstehens, abenteuerlicher Förderung geben – verbunden natürlich mit einem entsprechend hohen Risiko.
Es ist ein sehr hübscher und gescheiter Kommentar, den ich da zu Hilfe genommen habe, um Sie (und mich) über meinen Roman zu belehren, – dies späte, modernverzwickte, bewußte und auch wieder unbewußte Glied in einer großen Überliefe-rungsreihe. Hans Castorp als Gralssucher – Sie werden das nicht gedacht haben, als Sie seine Geschichte lasen, und wenn ich selbst es gedacht habe, so war es mehr und weniger als Denken. Vielleicht lesen Sie das Buch noch einmal unter diesem Ge-sichtspunkt. Sie werden dann auch finden, was der Gral ist, das Wissen, die Einweihung, jenes Höchste, wonach nicht nur der tumbe Held, sondern das Buch selbst auf der Suche ist. Sie werden es namentlich finden in dem "Schnee" betitelten Kapitel, wo der in tödlichen Höhen verirrte Hans Castorp sein Traum-gedicht vom Menschen träumt. Der Gral, den er, wenn nicht findet, so doch im todesnahen Traum erahnt, bevor er von seiner Höhe herab in die europäische Katastrophe gerissen wird, das ist die Idee des Menschen, die Konzeption einer zukünfti-gen, durch tiefstes Wissen um Krankheit und Tod hindurchge-gangenen Humanität. Der Gral ist ein Geheimnis, aber auch die Humanität ist das. Denn der Mensch selbst ist ein Geheimnis, und alle Humanität beruht auf Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Menschen.
Vorsatz
Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade er-zählenswert scheint (wobei zu. Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, daß es seine Geschichte ist, und daß nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edel-rost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Ver-gangenheit vorzutragen.
Das wäre kein Nachteil für eine Geschichte, sondern eher ein Vorteil; denn Geschichten müssen vergangen sein, und je ver-gangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigen-schaft als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Be-schwörer des Imperfekts. Es steht jedoch so mit ihr, wie es heu-le auch mit den Menschen und unter diesen nicht zum wenig-sten mit den Geschichtenerzählern steht: sie ist viel älter als ihre fahre, ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumläufen zu berechnen; mit einem Worte: sie verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht ei-gentlich der Zeit, – eine Aussage, womit auf die Fragwürdigkeit und eigentümliche Zwienatur dieses geheimnisvollen Elemen-tes im Vorbeigehen angespielt und hingewiesen sei.
Um aber einen klaren Sachverhalt nicht künstlich zu verdunkeln: die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, daß sie vor einer gewissen, Leben und Bewußtsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt … Sie spielt, oder, um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat ge-spielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu be-ginnen wohl kaum schon aufgehört hat. Vorher also spielt sie, wenn auch nicht lange vorher. Aber ist der Vergangenheits-charakter einer Geschichte nicht desto tiefer, vollkommener und märchenhafter, je dichter "vorher" sie spielt? Zudem könnte es sein, daß die unsrige mit dem Märchen auch sonst, ihrer inneren Natur nach, das eine und andre zu schaffen hat.
Wir werden sie ausführlich erzählen, genau und gründlich, – denn wann wäre je die Kurz – oder Langweiligkeit einer Ge-schichte abhängig gewesen von dem Raum und der Zeit, die sie in Anspruch nahm? Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlich-keit, neigen wir vielmehr der Ansicht zu, daß nur das Gründli-che wahrhaft unterhaltend sei.
Im Handumdrehen also wird der Erzähler mit Hansens Ge-schichte nicht fertig werden. Die sieben Tage einer Woche werden dazu nicht reichen und auch sieben Monate nicht. Am be-sten ist es, er macht sich im voraus nicht klar, wieviel Erdenzeit ihm verstreichen wird, während sie ihn umsponnen hält. Es werden, in Gottes Namen, ja nicht geradezu sieben Jahre sein!
Und somit fangen wir an.
Erstes Kapitel
Ankunft
Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen.
Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise; zu weit eigentlich im Verhältnis zu einem so kurzen Aufenthalt. Es geht durch mehrerer Herren Länder bergauf und bergab, von der süddeutschen Hochebene hinunter zum Gestade des Schwä-bischen Meeres und zu Schiff über seine springenden Wellen hin, dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten.
Von da an verzettelt sich die Reise, die solange großzügig, in direkten Linien vonstatten ging. Es gibt Aufenthalte und Um-ständlichkeiten. Beim Orte Rorschach, auf schweizerischem Ge-biet, vertraut man sich wieder der Eisenbahn, gelangt aber vor-derhand nur bis Landquart, einer kleinen Alpenstation, wo man den Zug zu wechseln gezwungen ist. Es ist eine Schmalspur-bahn, die man nach längerem Herumstehen in windiger und wenig reizvoller Gegend besteigt, und in dem Augenblick, wo die kleine, aber offenbar ungewöhnlich zugkräftige Maschine sich in Bewegung setzt, beginnt der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Aufstieg, der nicht enden zu wollen scheint. Denn Station Landquart liegt vergleichsweise noch in mäßiger Höhe; jetzt aber geht es auf wilder, drangvol-ler Felsenstraße allen Ernstes ins Hochgebirge.
Hans Castorp – dies der Name des jungen Mannes – befand sich allein mit seiner krokodilsledernen Handtasche, einem Ge-schenk seines Onkels und Pflegevaters, Konsul Tienappel, um auch diesen Namen hier gleich zu nennen, – seinem Winter-mantel, der an einem Haken schaukelte, und seiner Plaidrolle in einem kleinen grau gepolsterten Abteil; er saß bei niedergelas-senem Fenster, und da der Nachmittag sich mehr und mehr ver-kühlte, so hatte er, Familiensöhnchen und Zärtling, den Kragen seines modisch weiten, auf Seide gearbeiteten Sommerüber-ziehers