Moralité larmoyante. – Wie viel Vergnügen macht die Moralität! Man denke nur, was für ein Meer angenehmer Thränen schon bei Erzählungen edler, grossmüthiger Handlungen geflossen ist! – Dieser Reiz des Lebens würde schwinden, wenn der Glaube an die völlige Unverantwortlichkeit überhand nähme.
Ursprung der Gerechtigkeit. – Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie diess Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem jeder bekommt, was er mehr schätzt als der Andere. Man giebt jedem, was er haben will als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. – Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: "wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?" – Soviel vom Ursprung der Gerechtigkeit. Dadurch, dass die Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gemäss, den ursprünglichen Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen vergessen haben und namentlich weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist allmählich der Anschein entstanden, als sei eine gerechte Handlung eine unegoistische: auf diesem Anschein aber beruht die hohe Schätzung derselben, welche überdiess, wie alle Schätzungen, fortwährend noch im Wachsen ist: denn etwas Hochgeschätztes wird mit Aufopferung erstrebt, nachgeahmt, vervielfältigt und wächst dadurch, dass der Werth der aufgewandten Mühe und Beeiferung von jedem Einzelnen noch zum Werthe des geschätzten Dinges hinzugeschlagen wird. – Wie wenig moralisch sähe die Welt ohne die Vergesslichkeit aus! Ein Dichter könnte sagen, dass Gott die Vergesslichkeit als Thürhüterin an die Tempelschwelle der Menschenwürde hingelagert habe.
Vom Rechte des Schwächeren. – Wenn sich jemand unter Bedingungen einem Mächtigeren unterwirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die Gegenbedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt verbrennen und so dem Mächtigen eine grosse Einbusse machen kann. Desshalb entsteht hier eine Art Gleichstellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden können. Der Feind hat seinen Vortheil an der Erhaltung. – Insofern giebt es auch Rechte zwischen Sclaven und Herren, das heisst genau in dem Maasse, in welchem der Besitz des Sclaven seinem Herrn nützlich und wichtig ist. Das Recht geht ursprünglich soweit, als Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch Rechte, aber geringere. Daher das berühmte unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum potentia valere creditur).
Die drei Phasen der bisherigen Moralität. – Es ist das erste Zeichen, dass das Thier Mensch geworden ist, wenn sein Handeln nicht mehr auf das augenblickliche Wohlbefinden, sondern auf das dauernde sich bezieht, dass der Mensch also nützlich, zweckmässig wird. – da bricht zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus. Eine noch höhere Stufe ist erreicht, wenn er nach dem Princip der Ehre handelt; vermöge desselben ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsamen Empfindungen, und das erhebt ihn hoch über die Phase, in der nur die persönlich verstandene Nützlichkeit ihn leitete: er achtet und will geachtet werden, das heisst: er begreift den Nutzen als abhängig von dem, was er über Andere, was Andere über ihn meinen. Endlich handelt er, auf der höchsten Stufe der bisherigen Moralität nach seinem Maassstab über die Dinge und Menschen, er selber bestimmt für sich und Andere, was ehrenvoll, was nützlich ist; er ist zum Gesetzgeber der Meinungen geworden, gemäss dem immer höher entwickelten Begriff des Nützlichen und Ehrenhaften. Die Erkenntnis befähigt ihn, das Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als Collectiv-Individuum.
Moral des reifen Individuums. – Man hat bisher als das eigentliche Kennzeichen der moralischen Handlung das Unpersönliche angesehen; und es ist nachgewiesen, dass zu Anfang die Rücksicht auf den allgemeinen Nutzen es war, derentwegen man alle unpersönlichen Handlungen lobte und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandelung dieser Ansichten bevorstehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass gerade in der möglichst persönlichen Rücksicht auch der Nutzen für das Allgemeine am grössten ist: so dass gerade das streng persönliche Handeln dem jetzigen Begriff der Moralität (als einer allgemeinen Nützlichkeit) entspricht? Aus sich eine ganze Person machen und in Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in's Auge fassen – das bringt weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten Anderer. Wir Alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet, – gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Hülfebedürftigen zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das geopfert werden müsste. Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vortheil in dieser Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als seinen Vortheil versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.
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