„Wahrscheinlich ist sie schon unterrichtet,“ dachte sie, einen Schimmer von Beileid auf Annas Zügen gewahrend.
„Nun, komme denn, ich will dich in dein Zimmer führen,“ fuhr sie fort, im Bemühen, die Minute der Aussprache so weit als möglich hinauszuschieben.
„Ist das Grischa? Mein Gott, wie groß er geworden ist!“ rief Anna aus, und küßte den Knaben, ohne das Auge von Dolly wegzuwenden; dann blieb sie stehen und errötete.
„Aber nein, jetzt wollen wir nirgendshin gehen!“
Sie nahm ihr Tuch ab, ihren Hut, und verwickelte diesen mit dem Gewirr ihrer schwarzen überall sich hervorwindenden Haare, befreite denselben aber daraus, indem sie mit dem Kopfe schwingende Bewegungen machte.
„O, wie du glänzest von Glück und Gesundheit,“ sagte Dolly fast neidisch.
„Ich?“ antwortete Anna. „Mein Gott, Tanja! Altersgenossin meines Sergey,“ fügte sie hinzu, sich an das eintretende kleine Töchterchen Dollys wendend. Sie nahm es auf ihre Arme und küßte es – „ein reizendes Kind, reizend! Zeige mir doch alle deine Kinder!“
Sie nannte sie sämtlich und wußte nicht nur ihre Namen noch, sondern auch die Jahre und Monate der Geburt der Kinder, ihre Sinnesarten, ihre Krankheiten und Dolly fühlte sich wider ihren Willen bezaubert hiervon.
„Nun komm, wir wollen zu ihnen gehen,“ sagte sie, „Wasja schläft jetzt, schade.“
Nachdem beide Frauen die Kinder gemustert hatten, setzten sie sich, nunmehr allein, im Salon zum Kaffee. Anna beschäftigte sich mit dem Präsentierbrett, und schob es dann von sich.
„Dolly; er hat mit mir gesprochen.“
Dolly blickte kühl auf Anna. Sie erwartete jetzt erheuchelte Beileidsbezeugungen, aber Anna äußerte nichts der Art.
„Dolly, meine Liebe,“ sagte sie, „ich will dir gegenüber nicht für ihn sprechen, dich auch nicht trösten; das ist unmöglich. Aber, gutes Herz, mir thust du offen herausgesagt, leid; von ganzer Seele leid!“
Unter den dichten Wimpern ihrer blitzenden Augen erschienen plötzlich Thränen. Sie setzte sich näher zu ihrer Schwägerin, ergriff deren Hand mit ihrer energischen kleinen Rechten und Dolly widerstrebte nicht, allein ihre Züge hatten nichts von dem kalten Ausdruck verloren und sie sagte:
„Trösten kann mich niemand. Alles ist verloren für mich nach solchen Geschehnissen; alles ist dahin!“
Sie hatte dies kaum gesprochen, als der Ausdruck ihres Gesichts weicher wurde. Anna hob die magere, schmächtige Hand Dollys zu sich empor, küßte sie und antwortete:
„Aber, Dolly, was soll nun geschehen, was soll geschehen? Wie soll man am besten handeln in dieser furchtbaren Lage? – Hierüber gilt es jetzt nachzudenken!“
„Es ist alles schon gethan, nichts bleibt mehr zu thun,“ antwortete Dolly, „am Übelsten ist, verstehe mich recht, daß ich ihn nicht verlassen kann; denn es sind Kinder da; ich bin gebunden. Mit ihm leben aber kann ich nicht mehr; es ist mir eine Qual schon, ihn zu sehen.“
„Dolly, mein Täubchen, er sprach zwar schon mit mir, aber ich möchte nun von dir hören; erzähle mir alles.“
Dolly blickte fragend Anna an, in deren Gesicht ungeheuchelte Teilnahme und Liebe sichtbar waren.
„Wohlan denn,“ sagte sie plötzlich. „Doch ich will von Anfang an erzählen. Du weißt ja, wie ich geheiratet habe. Ich war mit meiner französischen Maman-Erziehung nicht nur unschuldig, sondern vielmehr dumm geblieben. Ich wußte nichts, gar nichts. Man sagt wohl, daß die Männer ihren Frauen von ihrem früheren Leben erzählten, aber Stefan – Stefan Arkadjewitsch – hat mir nichts erzählt. Du wirst das nicht glauben, aber bis heute habe ich geglaubt, daß ich das einzige Weib sei, welches er erkannt hat. So habe ich acht Jahre verlebt; stelle dir vor, daß ich nicht nur nie eine Treulosigkeit bei ihm geargwöhnt habe, nein, daß ich sie für unmöglich gehalten habe; und nun, stelle dir vor, mit solchen Auffassungen mußte ich plötzlich das ganze Verhängnis, diese ganze Niedrigkeit kennen lernen.
Verstehst du mich auch recht? Was es heißt, ganz im Vollgefühl seines Glückes zu sein, und mit einem Schlage,“ – Dolly fuhr fort, nur mit Mühe das Schluchzen unterdrückend, „jenen Brief erhalten zu müssen. Es war sein Brief an seine Geliebte, meine Gouvernante. Nein, dies ist zu entsetzlich!“
Schnell zog sie ihr Taschentuch hervor und bedeckte mit ihm ihr Antlitz. „Ich begreife noch, daß er verführt werden konnte,“ fuhr sie fort, nachdem sie eine Weile geschwiegen, „aber hinterlistig, schlau mich zu betrügen, und mit wem zusammen? Daß er fortfahren sollte, mein Gatte zu sein und zugleich der ihrige – das ist furchtbar! Aber du kannst das nicht verstehen!“
„O doch, doch, ich verstehe! Ich begreife, gute Dolly, ich begreife,“ antwortete Anna, ihr die Hand drückend.
„Und denkst du etwa, er könnte sich die ganze Entsetzlichkeit meiner Lage klar machen?“ fuhr Dolly fort, „keineswegs! Er ist glücklich und zufrieden!“
„O nein!“ unterbrach sie Anna schnell, „er ist in einer kläglichen Stimmung, er wird von Reue bedrückt!“
„Ist er der Reue fähig?“ fiel Dolly ein, der Schwägerin gespannt ins Gesicht schauend.
„Ja. Ich kenne ihn. Ich habe nicht ohne Mitleid auf ihn blicken können. Wir beide kennen ihn. Er ist gut, aber auch stolz, und jetzt fühlt er sich erniedrigt. Die Hauptsache, welche mich rührte,“ Anna erriet diese Hauptsache, welche Dolly rühren konnte, „ist die, daß ihn zweierlei quält; einmal empfindet er Scham vor seinen Kindern, und dann hat er, der dich liebt – ja, ja, der dich mehr liebt als das Leben“ – ließ Anna Dolly, die sie unterbrechen wollte, nicht zu Worte kommen, – „dir so weh gethan, dich so tief darniedergeschlagen. ‚Nein, nein, sie vergiebt nicht!‘ ist sein stetes Wort.“
Dolly blickte in Gedanken versunken an der Schwägerin vorüber und lauschte auf deren Worte.
„Ja, ich weiß, daß seine Lage schrecklich ist; der Schuldige fühlt viel tiefer, als der Unschuldige,“ sagte sie, „wenn er empfindet, daß durch seine Schuld alles Unglück hereingebrochen ist. Aber wie sollte ich ihm verzeihen, wiederum sein Weib werden können – nach jenem Geschöpf? Jetzt noch mit ihm zu leben, wäre für mich eine Qual, schon deshalb, weil mir die Liebe wertvoll ist, die ich ihm früher geweiht.“
Schluchzen unterbrach ihre Stimme.
Gleichsam vorsätzlich indessen begann sie jedesmal, wenn die Versöhnlichkeit sie zu überkommen drohte, wiederum von dem zu sprechen, was sie vor allem so erbittert hatte.
„Sie ist freilich noch jung, noch schön,“ fuhr sie fort, „du verstehst, Anna, daß meine Jugend, meine Schönheit mir von einem Manne genommen worden ist; von ihm und seinen Kindern! Ich diente ihm und ging in seinem Dienste auf, aber jetzt ist ihm – das versteht sich wohl – ein frisches, junges Wesen lieber. Sie mögen wohl beide von mir gesprochen, oder, was noch schlimmer wäre, geschwiegen haben – verstehst du?“
Ihr Auge loderte wiederum haßerfüllt empor.
„Und nach alledem will er wieder mit mir reden. Wie, soll ich ihm denn noch glauben? Niemals! Nein; es ist alles dahin, alles, was für mich ein Trost, ein Lohn für meine Mühen und Qualen hätte sein können. Du verstehst mich doch? Soeben habe ich Grischa unterrichtet. Früher war mir das eine Freude, jetzt ist es eine Marter. Wofür mühe ich mich, was quäle ich mich ab? Wozu sind die Kinder da? – Es ist furchtbar, daß plötzlich meine Seele sich gewendet hat, und anstatt Liebe und Zärtlichkeit, jetzt nur noch Wut, ja Wut darinnen wohnt. Getötet würde ich ihn haben“ —
„Herzchen, Dolly, ich verstehe dich, aber martere dich nicht selbst; du bist so beleidigt, so aufgeregt, daß du manches in falschem Lichte siehst!“
Dolly verstummte, zwei Minuten verstrichen in lautloser Stille.
„Was soll ich thun, denke nach, Dolly, hilf mir. Ich habe alles schon mir überlegt, und sehe keinen Ausweg mehr.“
Anna vermochte nichts zu