Visionen und andere phantastische Erzählungen. Turgenev Ivan Sergeevich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Turgenev Ivan Sergeevich
Издательство: Public Domain
Серия:
Жанр произведения: Русская классика
Год издания: 0
isbn:
Скачать книгу
der Bank, den lockigen Kopf auf die Hand gestützt und schlummerte; von Zeit zu Zeit fuhr er im Schlafe zusammen.

      »Grüß Gott, Bruder!« rief ich laut.

      Er sprang sofort auf und sah mich starr mit erschrockenen Augen an.

      »Grüß Gott, Bruder,« wiederholte ich, »wo ist der Alte?«

      »Was für ein Alter?« fragte mich der Bursche gedehnt.

      »Lukjanytsch.«

      »Ach so, Lukjanytsch!« Er blickte zur Seite. »Sie wollen also Lukjanytsch?«

      »Ja, Lukjanytsch. Ist er zu Hause?«

      »N–ein,« sagte der Bursche nach einer Pause. »Er ist… wie soll ich… wie soll ich es Ihnen sagen…«

      »Ist er etwa krank?«

      »Nein.«

      »Was ist denn mit ihm los?«

      »Er ist nicht mehr da.«

      »Wo ist er denn?«

      »Ja, es ist ihm… ein Unglück zugestoßen.«

      »Ist er gestorben?« fragte ich erstaunt.

      »Er hat sich erhängt.«

      »Erhängt!« rief ich erschrocken aus und schlug die Hände zusammen.

      Wir blickten einander an.

      »Ist es lange her?« fragte ich schließlich.

      »Heute sind es fünf Tage. Gestern wurde er beerdigt.«

      »Warum hat er sich erhängt?«

      »Gott weiß warum. Er war ja ein freier Mensch, kein Leibeigener mehr, er bekam sein Gehalt, er kannte keine Not, die Herrschaft behandelte ihn wie einen Verwandten. Wir haben ja eine so selten gute Herrschaft, Gott schenke ihr langes Leben! Man kann gar nicht begreifen, was ihm geschehen war. Der Böse hat ihn wohl verführt.«

      »Wie hat er es denn gemacht?«

      »Ganz einfach. Hat sich halt erhängt.«

      »Und hat man ihm vorher nichts angemerkt?«

      »Wie soll ich es Ihnen sagen… Etwas Besonderes war an ihm nicht zu sehen. Er war ja immer finster und mißtrauisch. Oft begann er zu krächzen und zu stöhnen und zu sagen, daß es ihm so traurig zumute sei. Nun, er war ja auch nicht mehr jung. In der letzten Zeit schien er wirklich etwas nachdenklicher als sonst. Manchmal kam er zu uns ins Dorf; ich bin nämlich sein Neffe. – ›Komm doch mal zu mir, Wassja,‹ sagte er, ›und übernachte bei mir!‹ – ›Warum denn, Onkelchen?‹ – ›Ich fürchte mich allein zu sein, es ist so langweilig und einsam.‹ – Ich ging also ab und zu zu ihm hin. Manchmal ging er in den Hof hinaus, sah auf das Haus, schüttelte den Kopf und seufzte… Auch vor jener Nacht, das heißt bevor er sich erhängte, kam er zu uns und rief mich zu sich. Ich ging auch wirklich mit. Wie wir ankamen, saßen wir noch eine Weile auf der Bank vor seinem Häuschen; dann stand er auf und ließ mich allein. Ich wartete; als er lange nicht kommen wollte, ging ich in den Hof und rief: – ›Onkelchen, he Onkelchen!..‹ – Der Onkel gab keine Antwort. Da denke ich mir: wo ist er nur hingegangen, vielleicht in das Herrschaftshaus? Es war aber schon Abend geworden. Ich ging also ins Haus. Es war schon dunkel geworden. Wie ich an der Rumpelkammer vorbeikomme, höre ich, daß dort jemand hinter der Türe kratzt; ich mache die Türe auf; richtig, da sitzt er in der Kammer beim Fenster. ›Was machen Sie hier, Onkelchen?‹ frage ich ihn. Er dreht sich plötzlich um und schreit mich wütend an; seine Augen laufen aber nur so hin und her und leuchten wie bei einem Kater. ›Was willst du? Siehst du denn nicht, daß ich mich rasiere?‹ Und seine Stimme klingt dabei so heiser. Mir standen plötzlich die Haare zu Berge, und es wurde mir, ich wußte selbst nicht warum, so ängstlich zumute… Damals hatten ihn wohl schon die Teufel in ihrer Gewalt. ›Im Finstern?‹ frage ich ihn, mir beben aber dabei die Knie. – ›Es ist gut,‹ sagt er mir, – ›geh nur.‹ Ich ging, auch er kam aus der Kammer heraus und verschloß die Türe. Wir kamen wieder in sein Häuschen, und meine Angst war auf einmal wie weggeblasen. ›Was haben Sie, Onkelchen,‹ fragte ich ihn, ›in der Kammer gemacht?‹ Er fuhr zusammen. ›Schweig und kümmere dich nicht um fremde Sachen.‹ Mit diesen Worten legte er sich auf die Ofenbank. In der Ecke brennt aber eine Nachtlampe. So liege ich da, bin gerade beim Einschlafen… plötzlich höre ich, wie die Türe leise aufgeht… ganz wenig geht sie auf. Der Onkel lag aber mit dem Rücken gegen die Tür; Sie werden sich wohl erinnern, daß er schwerhörig war. Und doch hörte er, wie die Türe aufging, und sprang plötzlich auf… ›Wer ruft mich da? Wer? Er will mich holen!‹ Mit diesen Worten lief er wie er war ohne Mütze in den Hof… Ich dachte mir noch: ›Was hat er nur?‹ schlief aber sofort wieder ein. Wie ich am nächsten Morgen erwache, ist Lukjanytsch nicht da. Ich ging aus dem Hause, rief nach ihm, bekam aber keine Antwort. Ich frage den Wächter: ›Hast du nicht meinen Onkel gesehen?‹ – ›Nein,‹ sagt er mir, ›ich hab' ihn nicht gesehen.‹ – ›Es ist doch merkwürdig,‹ sage ich, ›daß er nirgends zu sehen ist!‹ Es wurde uns beiden ganz bange zumute. ›Komm doch, Fedossejitsch, komm doch,‹ sage ich, ›wollen wir im Herrschaftshause nachschauen.‹ – ›Komm, Wassilij Timofejitsch,‹ sagt er drauf und ist dabei weiß wie Kalk. Wir gingen ins Haus… und wie ich an der Kammer vorbeikomme, sehe ich, daß das Vorhängeschloß an der Türe aufgemacht ist; ich will die Türe aufstoßen, sie ist aber von innen zugeriegelt… Fedossejitsch lief sofort von außen herum und sah ins Fenster. ›Wassilij Timofejitsch!‹ schreit er, ›die Beine hängen, die Beine…‹ Ich laufe sofort zum Fenster. Und es sind wirklich seine Beine, Lukjanytschs Beine. Er hatte sich mitten im Zimmer erhängt… Wir schickten gleich nach der Polizei… Man nahm ihn aus der Schlinge heraus: zwölf Knoten waren im Strick.«

      »Und was sagte die Polizei?«

      »Die Polizei? Die sagte nichts. Sie dachten lange nach, was da für eine Ursache gewesen war. Es gab aber keine Ursache. Man entschied also, daß er es im Wahnsinne getan hatte, und dabei blieb's. In der letzten Zeit hatte er auch wirklich oft über Kopfschmerzen geklagt…«

      Ich sprach noch etwa eine halbe Stunde mit dem Burschen und ging schließlich heim, verstimmt und verwirrt. Ich muß gestehen, daß ich das alte Haus nicht ohne eine geheime abergläubische Angst ansehen konnte… Nach einem Monat reiste ich ab, und alle die schrecklichen Eindrücke und geheimnisvollen Begegnungen gingen mir allmählich aus dem Kopf.

II

      Drei Jahre vergingen. Diese Zeit verbrachte ich zum größten Teil in Petersburg und im Auslande; und wenn ich auch einige Male mein Landgut aufgesucht hatte, so war es doch nur für wenige Tage, so daß ich kein einziges Mal Gelegenheit hatte, nach Glinnoje oder Michailowskoje zu kommen. Auch meine Schöne sah ich nicht wieder, ebensowenig ihren Begleiter. Nach drei Jahren kam ich aber ganz zufällig mit Frau Schlykowa und ihrer Schwester, Fräulein Pelageja Badajewa, derselben Pelageja, die ich bis dahin, offen gesagt, für eine erdichtete Person gehalten hatte, in Moskau in einer Abendgesellschaft zusammen. Beide Damen waren nicht mehr jung, doch von recht angenehmem Äußeren; im Gespräch zeigten sie Geist und heiteres Temperament; sie hatten große Reisen gemacht und offenbar mit Nutzen; beide benahmen sich höchst ungezwungen und schienen lustig. Doch keine von ihnen erinnerte auch im entferntesten an jene Unbekannte. Ich wurde ihnen vorgestellt. Ich kam mit Frau Schlykowa ins Gespräch (ihre Schwester unterhielt sich gerade mit einem zugereisten Geologen). Ich erklärte ihr, daß ich das Vergnügen hätte, ihr Gutsnachbar im N–schen Kreise zu sein.

      »Wirklich? Ich besitze dort tatsächlich ein kleines Gut,« erwiderte sie, »in der Nähe von Glinnoje.«

      »Gewiß, gewiß,« entgegnete ich, »ich kenne Ihr Michailowskoje. Kommen Sie manchmal hin?«

      »Ich? Sehr selten.«

      »Waren Sie nicht vor drei Jahren dort?«

      »Ich muß mich erst besinnen… Ich glaube, ja. Richtig, ich war wirklich da.«

      »Allein oder mit Ihrer Fräulein Schwester?«

      Sie sah mich an.

      »Mit meiner Schwester. Wir blieben acht Tage dort. Wir hatten geschäftlich zu tun. Sind übrigens mit keinem Menschen zusammengekommen.«

      »Hm…