Der Sprecher fuhr empor und warf einen Blick auf sein Chronometer.
»Ruhe, Ruhe! Noch zehn Minuten für mich.«
Einem kleinen Glasröhrchen entnahm er sorgfältig abgezählt zwei winzige weiße Pillen und verschluckte sie. Beinahe momentan wich die nervöse Spannung aus seinen gequälten Zügen und machte einer friedlichen Ruhe Platz. Seine Gedanken wanderten rückwärts. Bilder aus einer ein Menschenalter zurückliegenden Vergangenheit zogen plastisch an seinem Geiste vorüber … Die großen Bahnbauten damals in Mesopotamien im ersten Jahrzehnt nach dem Weltkriege. Ein kleines Landhaus am Ausläufer der Berge … Eine blonde Frau in weißem Kleide mit einem spielenden Knaben im Arm … Wie lange, wie unendlich lange war das her, daß er Gerhard Bursfeld, den ehemaligen deutschen Ingenieuroffizier, aus seinem kurdischen Zufluchtsort hervorgelockt und für die mesopotamischen Bahn- und Bewässerungsbauten gewonnen hatte. Damals, als Hände und Köpfe im Zweistromlande knapp waren.
Gerhard Bursfeld war dem Rufe zu solcher Arbeit gern gefolgt. Mit ihm kamen sein junger Knabe und sein blondes Weib Rokaja Bursfeld, die schöne Tochter eines kurdischen Häuptlings und einer zirkassischen Mutter.
Ein glückliches Leben begann. Bis Gerhard Bursfeld die große gefährliche Erfindung machte. Bis Edward Glossin, in Liebe zu der blonden Frau entbrannt, den Freund und seine Erfindung an die englische Regierung verriet … Gerhard Bursfeld verschwand hinter den Mauern des Towers. Sein Weib entfloh mit dem dreijährigen Knaben. In die Berge nach Nordosten. Ihre Spur war verloren. Und Edward Glossin war der betrogene Betrüger. Mit ein paar tausend Pfund speiste ihn die englische Regierung für ein Geheimnis ab, dessen Wert ihm unermeßlich schien …
Die Züge des Träumers nahmen wieder die frühere Spannung an. Der Klang einer elektrischen Glocke ertönte. Der Doktor erhob sich und ging straff aufgerichtet in das Kabinett des Polizeichefs.
Kurz begrüßte er den Ankömmling Professor Curtis aus Sing-Sing und fragte: »Wie ist es möglich gewesen, daß die Apparatur versagte?«
Stockend und nervös gab der Professor seinen Bericht.
»Uns allen ganz unbegreiflich! Auf 5 Uhr 30 Minuten war die Elektrokution des Raubmörders Woodburne angesetzt. Sie ging glatt vonstatten. Um 5 Uhr 40 Minuten lag der Delinquent bereits auf dem Seziertisch. Die Maschine wurde stillgesetzt und um 5 Uhr 55 Minuten wieder angelassen. Punkt 6 Uhr brachte man den zweiten Delinquenten und schnallte ihn auf den Stuhl. Er trug den vorschriftsmäßigen Hinrichtungsanzug mit dem Schlitz im rechten Beinkleid. Die Elektrode wurde ihm um den Oberschenkel gelegt. Zwei Minuten nach sechs senkte sich die Kupferhaube auf seinen Kopf. Im Hinrichtungsraum stand der Gefängnisinspektor mit den zwölf vom Gesetz vorgeschriebenen Zeugen. Der Elektriker des Gefängnisses hatte seinen Platz an der Schalttafel, den Augen des Delinquenten verborgen. 6 Uhr 3 Minuten schlug er auf einen Wink des Scherifs den Schalthebel ein … Ich will gleich bemerken, daß dies die letzte authentische Zeitangabe aus Sing-Sing ist. Um 6 Uhr 3 Minuten sind alle Uhren in der Anstalt mit magnetisierten Eisenteilen stehengeblieben. Die weiteren Zeitangaben in den Zeitungen stammen vom Neuyorker Telegraphenamt …«
Dr. Glossin wippte nervös mit einem Fuß. Der Professor fuhr fort.
»In dem Augenblick, in dem der Elektriker den Strom auf den Delinquenten schaltete, blieb die Dynamomaschine, wie von einer Riesenfaust gepackt, plötzlich stehen. Sie stand und hielt ebenso momentan auch die mit ihr gekuppelte Dampfturbine fest. Mit ungeheurer Gewalt strömte der Frischdampf aus dem Kessel gegen die stillstehenden Turbinenschaufeln. Es war höchste Zeit, daß der Maschinenwärter zusprang und den Dampf abstellte.
Während alledem saß der Delinquent ruhig auf dem Stuhl und zeigte keine Spur einer Stromwirkung. Erst später ist mir das eigenartige Verhalten des Verurteilten wieder in die Erinnerung gekommen. Er schien mit dem Leben abgeschlossen zu haben. Aber sobald er in den Hinrichtungsraum geführt wurde, kehrte eine leise Röte in seine bis dahin todblassen Züge zurück. Als die Maschine das erstemal versagte, glaubte ich die Spur eines befriedigten Lächelns auf seinen Zügen zu bemerken. Gerade so, als ob er diesen für uns alle so überraschenden Zwischenfall erwartet habe.
Als die Maschine zum zweitenmal angelassen wurde, verstärkte sich diese rätselhafte Heiterkeit. Er verfolgte unsere Arbeiten, als ob es sich für ihn nur um ein wissenschaftliches Experiment handle.
Beim dritten Mal kam das Unglück. Die Maschinisten hatten die Turbine auf höchste Tourenzahl gebracht. Sie lief mit dreitausend Umdrehungen, und die elektrische Spannung stand fünfzig Prozent über der vorgeschriebenen Höhe. Es gab einen Ruck. Die Achse zwischen Dynamo und Turbine zerbrach. Die Turbine, plötzlich ohne Last, ging durch. Ihre Schaufelräder zerrissen unter der ins Ungeheuere gesteigerten Zentrifugalkraft. Der Kesselfrischdampf quirlte und jagte die Trümmer unter greulichem Schleifen und Kreischen durch die Abdampfleitung in den Kondensator. Als der Dampf abgestellt war, fühlten wir alle, daß wir haarscharf am Tode vorbeigegangen waren …«
Der Polizeichef flüsterte ein paar Worte mit dem Doktor. Dann fragte er den Professor. »Haben Sie eine wissenschaftliche Erklärung für die Vorgänge?«
»Nein, Herr! Jede Erklärung, die sich beweisen ließe, fehlt. Höchstens eine Vermutung. Die Magnetisierung sämtlicher Uhren deutet darauf hin, daß in den kritischen Minuten ein elektromagnetischer Wirbelsturm von unerhörter Heftigkeit durch die Räume von Sing-Sing gegangen ist. Es müssen extrem starke elektromagnetische Felder im freien Raum aufgetreten sein. Sonst wäre es nicht zu erklären, daß sogar die einzelnen Windungen der großen Stahlfeder in der Zentraluhr vollständig magnetisch zusammengebacken sind. Ein fürchterliches elektromagnetisches Gewitter muß wohl stattgefunden haben. Aber damit wissen wir wenig mehr.«
Eine Handbewegung des Doktors unterbrach die wissenschaftlichen Erörterungen des Professors.
»Wie war die Flucht möglich?«
Der Bericht darüber war lückenhaft. »Als die Turbine im Nebenraum explodierte, suchten alle Anwesenden instinktiv Deckung. Ein Teil warf sich zu Boden. Ein Teil flüchtete hinter die Schalttafel. Etwa zwei Minuten dauerte das nervenzerreißende Heulen und Quirlen der Trümmerstücke in der Dampfleitung. Als endlich der Dampf abgestellt und Ruhe eingetreten war, merkte man, daß der Delinquent verschwunden war. Die starken Ochsenlederriemen, die ihn hielten, waren nicht aufgeschnallt, sondern mit einem scharfen Messer durchschnitten. Die Flucht mußte in höchster Eile in wenigen Sekunden ausgeführt worden sein. Erst zehn Minuten später wurde es bemerkt, daß auch einer der Zeugen fehlte.«
Das war alles, was Professor Curtis berichten konnte.
Dr. Glossin zog die Uhr.
»Ich muß leider weiter! Leben Sie wohl, Herr Professor.« Er trat, von dem Polizeichef begleitet, auf den Gang.
»Wenden Sie alle Maßregeln an, die Ihnen zweckmäßig erscheinen. In spätestens drei Stunden erwarte ich Meldung, wie es möglich war, daß ein falscher Zeuge der Elektrokution beiwohnte. Geben Sie telephonischen Bericht! Wellenlänge der Regierungsflugzeuge! Ich gehe nach Washington.«
Ein Läuten des Telephons im Zimmer des Präsidenten rief diesen hinweg. Unwillkürlich trat Dr. Glossin mit ihm in den Raum zurück.
»Vielleicht eine gute Nachricht?«
Der Präsident ergriff den Hörer. Erstaunen und Spannung malten sich auf seinem Gesicht. Auch Dr. Glossin trat näher. »Was ist?«
»Ein Armeeflugzeug verschwunden. R. F. c. 1 vom Ankerplatz entführt.«
»Weiter, weiter!«
Der Doktor stampfte auf den Boden.
»Wer war es?«
Er drang auf den Präsidenten ein, als wollte er ihm den Hörer aus der Hand reißen. MacMorland hatte seine Ruhe wiedergefunden. Kurz und knapp klangen seine Befehle in den Trichter.
»Der Staatssekretär des Krieges ist benachrichtigt? … Gut! So wird von dort aus die Verfolgung geleitet werden. Wie sehen die Täter aus? … Hat man irgendwelche Vermutungen? …