Leben sie nicht, diese guten Leute, wie in einem Schlaraffenlande, wo Milch, Zeit und Honig in vollen Bächen fließt, und wo man, wenn das Leben ausgetrunken ist, wieder einschenkt? Wo man selbst den Tod so lange bei Wein und Politik hinhält, bis er gemütlich die Sense in den Winkel lehnt und sagt: »Auf ein paar Jahre kommt mir's nicht an?« Und derweilen sich diese Leute in Zeit wälzen wie Ferkel in der Kleie, lebst du in der Großstadt – nicht nach einem Stundenplan, o nein – nach einem Halbeminutenplan. »4 Uhr 15 ist der Vortrag zu Ende; 4 Uhr 17½ Minuten ist die grüne Straßenbahn an der Ecke der Pfälzerstraße, in 2½ Minuten kann ich sie erreichen: in 15 Minuten, also 4 Uhr 32½ ist sie am Moltkeplatz; wenn ich Glück habe, erwische ich dort die rote Bahn und fahre mit dieser in 14½ Minuten nach der Domgasse; wenn ich die Beine nachziehe, kann ich in 13 Minuten an der Esplanade sein und komme dann eben rechtzeitig um 5 Uhr zur Konferenz.« Hast du aber kein Glück – und mit Straßenbahnen hat man nie Glück – dann fällt deine ganze Tagesordnung über den Haufen wie ein Kartenhaus, das auf den großen Zeiger einer Turmuhr gebaut wurde; über den ganzen Rest des Tages fällt der Schatten der versäumten 10 Minuten; alles ist verschoben, alles verdreht und verspätet; die Galle tritt ins Blut, und in jener halben Minute, die du zu spät zur roten Bahn erschienst, hast du einen Tag verloren.
Oder du sitzest in deinem Bureau oder Kontor und prüfst eine Statistik, die morgen abgeliefert werden muß. Ha, denkst du, die Eingabe des Herrn X. muß ja noch heute erledigt werden! Und dann das Attest, das Frau Y. erbeten –! Ja, richtig, der Z. wartet schon drei Tage auf die Empfangsbestätigung für seine Sendung – und dann muß der Bericht an die Behörde angefangen werden; es sind nur noch acht Tage bis zum Einlieferungstermin – I, sollte nicht heute eine Sitzung des Wohlfahrtsausschusses sein? (Du suchst längere Zeit nach einem Papier.) Richtig: Sitzung am 3. Juni morgens 11 Uhr – es ist jetzt ¾ 12 – also versäumt! Hm – dem Dr. N. hab' ich noch gar nicht auf seine Einladung zum Diner geantwortet; es hat, glaub' ich, vor 14 Tagen stattgefunden – halt! Hab' ich eigentlich schon meine Feuerversicherung erneuert? Nein – nein! Und dabei gewittert's jetzt alle Tage, und überall schlägt's ein! Zum Augenarzt komm' ich auch nicht mit meinem Bindehautkatarrh – ach ja, das Buch über Lungenheilstätten von Dr. M. sollt' ich ja lesen, das liegt schon seit Weihnachten hier – hab' ich eigentlich schon dem Fräulein O. geantwortet? Ah, da muß ich doch aber gleich – nein, erst muß P. Bescheid haben, daß ich – oder nein, noch eiliger ist der Brief an Q.; die andern kann ich heute Abend – Donnerwetter, heute Abend ist ja der Vortrag von Professor R.; wenn ich da nicht hinkomme, wird er mir sein Lebtag nicht wieder – ja, was ist denn das, heut' Abend hab' ich ja Gesellschaft im eigenen Hause –
Du bist längst aufgesprungen und rennst wie eine vergiftete Ratte an allen vier Wänden der Zeit hinauf, um ein Loch zu finden. Da tritt dein Diener ein und sagt: Herr Soundso (wie du nun eben heißt), es ist höchste Zeit, aufs Gericht zu gehen, sonst wird Ihre Klage als zurückgezogen betrachtet! Du greifst nach deinen Stiefeln, und indem du natürlich den linken Stiefel auf den rechten Fuß zu ziehen versuchst, fallen dir fünf notwendige Besuche, sieben wichtige Sitzungen und neunzehn dringliche Briefe ein; du stürzest davon, kehrst aber in der Tür wieder um und rufst dem Diener zu: »Lieber Meyer, mir fällt ein, ich habe auf 1 Uhr dem Porträtmaler eine Sitzung versprochen; sagen Sie, ich wäre plötzlich abgerufen worden, und dann gehen Sie sofort hin und bezahlen Sie die Einkommensteuer, die hab' ich total vergessen; der Gerichtsvollzieher ist schon dagewesen und hat Zettel angeklebt …«
Und so kommst du vor tausend Arbeiten zu keiner einzigen und erleidest das graueste Elend, das diese Welt gewährt: der Katzenjammer nach einer übervollen Nacht ist Himmelsfreude gegen den Kater nach einem leeren Tage!
Armer, verstörter Geist, ruheloses Herz, gequälter Zeitgenosse und Mitmensch, komm' zu uns und empfange Frieden in den Armen der
Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben.
Siehe, wir nennen uns nicht die »Brüder vom ruhigen Leben«, sondern »Brüder vom geruhigen Leben«, woraus du ersehen mögest, daß wir Zeit haben. Nachdem du so vielen Vereinen und Ausschüssen beigetreten bist, tritt endlich diesem bei, den ich mit anderen weisen Männern gegründet habe und der dich alle anderen Vereine ertragen lehrt. Du hast bereits dein Eintrittsgeld in der Hand – festina lente – höre und erwäge wohl, bevor du handelst.
Ich seh' es dir an: du wähnst, ich lüde dich zu einem Klub der Wurschtigkeit, in welchem man lebt nach dem Grundsatze: »Nachher ist alles eins; in der Nacht des Todes sind alle Katzen grau, und obendrein sieht, wer tot ist, kein Grau und keine Katze.« Irre dich nicht. Unsere Brüderschaft lebt das Leben mit eifriger Aufmerksamkeit und reger Kraft.
Oder glaubst du, wir schraubten uns und unsere Welt zurück in die Zeiten der Väter, die sich an dem Blitz, der ihr Haus entzündete, eine lange Pfeife entbrannten? O nein, mein Freund, unsere Brüdergemeinde weiß, daß Leben nicht zurück kann; Leben kann immer nur vorwärts.
Unsere Gemeinschaft weiß, daß Reize und Sorgen den Menschen von heute zehnfach so stark bestürmen wie seine Vorfahren. Es ist wahr: der Ernst des Lebens und die Lust des Lebens reißen sich um die moderne Menschenseele mit einem Ungestüm, das ehemals unerhört war. Wir Kinder dieses goldenen Zeitalters der Technik und der Wissenschaft sind ein Geschlecht von Parvenus, und unter diesen Parvenus sind wir Deutschen noch ein besonderes Stück emporgekommen. Wer aber so jählings emporkommt, dem wird schwindelig. Das ist das Schicksal der Parvenus.
Arbeit und Genuß tanzen uns vor den Augen, daß uns wirblig wird und alles sich mit uns im Kreise dreht. Wir haben den Überblick verloren; wir haben noch nicht gelernt, über die neue, unerwartete Fülle zu disponieren. Ruhig gesehen ist über die Hälfte geschafft. Wir werden hineinwachsen in unsere Aufgabe; wir werden sie bewältigen, wie jedes vorhergegangene tapfere Geschlecht. Aber noch flimmert's uns vor den Augen. Die einfachsten, banalsten Gebote der Ordnung, der Beschränkung und Überlegung sind uns abhanden gekommen, und bei wem du eintrittst, suchst du vergebens nach der philosophischen Hausapotheke.
Erwarte daher nicht orphische Weisheit, nicht rabendunkle Urworte aus Morgendämmerungen der Menschheit, der du eintrittst in unsere Gemeinschaft! Es sind die gewöhnlichen Rhabarbertropfen der Seelentherapie, die du hier findest; was aber das Eigentümlichste ist, sie stehen nicht da in verstaubten Fläschchen sondern sie werden angewandt. Wer in die Brüdergemeinschaft aufgenommen wird, leistet zuvor einen heiligen Eid, daß er ihr alle seine Sünden gegen ein geruhiges Leben beichten, sich den über ihn verhängten Bußen unterwerfen und die Lehren der Weisen mit Ehrerbietung hören und redlich befolgen werde.
In großen, ehrwürdigen Protokollen ist niedergeschrieben, was in den sonnabendlichen Konventen gebeichtet, verhandelt, geurteilt und gelehrt worden, zu denkwürdigem Zeugnis von der gewaltigen Macht und Tücke des Kleinen und von der Überwindung solcher Macht. In diesen heiligen Büchern mit mir zu blättern, bist du nunmehr, teuerster Leser, herzlich gebeten.
Haare in der Feder
Es ist verzeihlich, Mensch, daß du meinst, wenn dir ein Haar in der Schreibfeder sitzt, es werde sich beim Schreiben von selbst wieder daraus entfernen. Bedenke aber, daß Haar und Feder, sobald sie diese deine Meinung merken, nur um so zärtlicher zusammenhalten. Aus dem verschmierten Buchstaben wird ein verschmiertes Wort, aus dem verschmierten Wort eine verschmierte Zeile; in der nächsten Zeile geht die Schmiererei rüstig weiter und dauert so lange, bis du die Feder auf den Tisch haust, sie zerbrichst und dir die Hand verstauchst. Daß du die ganze Seite nun noch einmal schreiben mußt, kostet bloß Zeit. Die verstauchte Hand kostet Zeit, Verdienst und ärztliches Honorar: das will alles noch nichts sagen. Aber das Wutgift, das sich in dir angesammelt, während