Auch die Herren von der Obrigkeit schlossen sich dem Zug an. Ich blieb mit Halef zurück. Er hatte mir einen Wink gegeben.
»Sihdi, ich habe noch die halbe Fackel,« sagte er; »sie ist zwar verlöscht, aber wir können sie ja wieder anbrennen. Wollen wir uns nicht die Hütte des Alten ansehen?«
»Ja, wir wollen es wenigstens versuchen.«
»Hast du den Schlüssel noch? Ich habe gesehen, daß du ihn einstecktest, als du dem Schurken in der Gerichtsverhandlung die Taschen leertest.«
»Ich habe ihn noch, weiß aber nicht, ob es der Hüttenschlüssel ist.«
»Er wird es schon sein. Welche Schlüssel sollte der Alte sonst noch haben!«
Wir warteten, bis die Anderen sämtlich verschwunden waren, und schlossen dann die Türe auf. Mit Hilfe eines Zündholzes und eines Stückes Papier wurde die Fackel wieder in Brand gesteckt, dann traten wir ein.
Das armselige Gebäude lehnte, wie bereits erwähnt, an einer Mauer. Es schien, von außen betrachtet, nur einen einzigen kleinen Raum zu enthalten; aber als wir uns jetzt im Innern befanden, sahen wir, daß mehrere Stuben hintereinander lagen. Die inneren Räume gehörten zu dem alten Schloß, und die Hütte war in schlauer Weise an die Oeffnung gesetzt worden.
Die vordere Stube war fast leer. Man sah es ihr an, daß sie nur dazu diente, Besuche abzufertigen.
Als wir das zweite Gelaß betreten wollten, bemerkte ich mehrere Fäden, welche oben, unten und in der Mitte quer über den Eingang liefen. Ich berührte den einen vorsichtig mit dem Griff meiner Peitsche, und sofort ertönte das Krachen eines Schusses. Katzen miauten, ein Hund bellte, Raben krächzten und allerlei andere Stimmen wurden hörbar.
»O Allah!« lachte Halef. »Wir befinden uns wahrscheinlich in der Arche des Erzvaters Noah. Aber, Sihdi, ich schlage vor, daß wir nicht weiter eindringen. Warten wir lieber, bis es Tag ist.«
Ich stimmte sehr gern bei. Wenn ich dem alten Mübarek auch keine außergewöhnlichen physikalischen Kenntnisse zutraute, so konnten die seinigen doch vollständig ausgereicht haben, irgend einen wirkungsvollen Apparat zum Unschädlichmachen fremder Eindringlinge zu erfinden. Wir schlossen also wieder zu und löschten die Fackel aus.
Eben als wir den Heimweg antreten wollten, kam eine weibliche Gestalt auf uns zu gehuscht. Ich erkannte ihr Gesicht nicht. Sie aber ergriff meine Hand und drückte, bevor ich es zu hindern vermochte, ihre Lippen darauf.
»Ich sah beim Scheine der Fackel, daß du es bist, Effendi, und muß dir nochmals danken.«
Es war Nebatja, die Pflanzensucherin.
»Was tust du hier oben?« fragte ich sie. »Warst du bereits da, als wir die Gefangenen holten?«
»Nein. Es ist keine Freude für mein Herz, solche unglückliche Menschen zu sehen. Aber ich war im Hofe des Kodscha Bascha, als du verurteilt werden solltest. Herr, du bist tapfer gewesen, aber du hast dir auch einen bösen Feind erworben.«
»Wen? Den Mübarek?«
»Den meine ich nicht, obgleich auch er dich haßt. Ich meine den Kodscha Bascha.«
»Ich glaube wohl, daß er mir nicht seine besondere Liebe schenken wird; aber als Feind brauche ich ihn nicht zu fürchten.«
»Ich bitte dich dennoch, sei vorsichtig!«
»Ist er ein so schlimmer Gast?«
»Ja. Er ist die Obrigkeit, aber im Stillen unterstützt er die Leute des Schut.«
»Ah! Woher weißt du das?«
»Er war oft des Nachts hier oben bei dem Mübarek.«
»Hast du dich nicht getäuscht?«
»Nein. Ich habe ihn beim Mondschein sehr deutlich gesehen, und ich habe ihn in dunkler Nacht an der Stimme erkannt.«
»Hm! Bist du so oft hier oben gewesen?«
»Oft, trotzdem es mir vom Mübarek verboten worden. Ich liebe die Nacht. Sie ist die Freundin des Menschen. Sie läßt ihn mit seinem Gott allein und duldet nicht, daß er im Gebet gestört wird. Auch gibt es Pflanzen, die man nur des Nachts suchen darf.«
»Wirklich?«
»Ja. Wie es Pflanzen gibt, welche nur des Nachts duften, so gibt es überhaupt solche, die nur des Nachts wachen; am Tage aber schlafen sie. Und hier oben gibt es solche Nachtfreundinnen, bei denen ich dann sitze, um mit ihnen zu sprechen und auf ihre Antwort zu lauschen. In der letzten Zeit war mir das schwer gemacht. Heute aber hast du meinen Feind entlarvt; er befindet sich in Gefangenschaft, und da bin ich nun gleich heraufgegangen, um mir nach Mitternacht einen König zu holen.«
»Einen König? Ist das auch eine Pflanze?«
»Ja. Kennst du sie nicht?«
»Nein.«
»Sie ist ein König, denn wenn sie stirbt, so stirbt das ganze Volk mit ihr.«
Ich hatte hier ein ganz eigenartig und tief angelegtes Frauengemüt vor mir. Dieses Weib mußte im Schweiß der Arbeit für ihre Familie sorgen und fand doch noch Zeit, des Nachts stundenlang mit den Pflanzen zu verkehren, mit ihnen zu sprechen und die Geheimnisse ihres Daseins zu erlauschen.
»Wie ist der Name dieser Pflanze?« fragte ich neugierig.
»Es ist die Hadsch Marrjam. Wie schade, daß du sie nicht kennst!«
»Ich kenne sie; aber ich habe nicht gewußt, daß sie einen König hat.«
»Nur wenige Menschen wissen es, und unter diesen wenigen ist selten einer so glücklich, einen König zu finden. Man muß die Hadsch Marrjam sehr lieb haben und ihre Art und Weise ganz genau kennen; dann findet man den König. Das Volk wächst gern auf unfruchtbaren Stellen, an Bergen, Felsenbrüchen und öden Halden. Es steht stets im Kreise, der oft klein, oft auch groß ist, und ganz genau im Mittelpunkt dieses Kreises steht der König.«
Das war mir freilich neu. Hadsch Marrjam heißt »Kreuz Mariens«, und ganz dieselbe Pflanze wächst auch in Deutschland und wird im Volk Marienkreuzdistel genannt. Wie sonderbar, daß der Name auf den Höhen des Erzgebirges gerade so lautet, wie am Babuna- oder Plaschkawitzagebirg in der Türkei!
Die Frau fuhr in ihrem Lieblingsthema fort:
»Diese Distel ist sehr dürr und spröd; sie wird nicht hoch und hat einen dünnen Stengel; aber der König ist breit und wird alle Tage breiter. Sein Stengel ist so dünn wie eine Messerklinge; aber er kann so breit wie zwei Hände werden und trägt oben einen langen, schmalen Distelkopf, auf dessen dunkeln Grund eine helle Zickzackschlange gezeichnet ist. Diese Schlange leuchtet des Nachts.«
»Ist das wahr?«
»Ich belüge dich nicht, Herr. Ich habe es oft gesehen und werde es auch heute wieder sehen. Wenn man den Distelkönig fortnimmt, so gehen alle seine Untertanen ein. Nach Verlauf eines Monats sind sie tot. Sonst aber werden sie sehr alt. Der König, welchen ich heute hole, ist wohl gegen zehn Jahre alt.«
»Aber wenn du ihn holst, so geht ja sein Volk ein!«
»O nein! Es ist ein neuer, junger König gewachsen; da kann man den Alten fortnehmen. Das muß am Sonntag nach dem Neumond geschehen, am heiligen Tag der Christen, deren Himmelskönigin Marrjam ist. An diesem Tag leuchtet der König am schönsten; er leuchtet, selbst abgeschnitten, dann noch einige Nächte. Da hat er seine beste Kraft. Heute ist der erste Sonntag nach Neumond; darum hole ich mir den König in dieser Nacht. Wenn du Zeit hättest, könntest du ihn leuchten sehen.«
»Ich würde mit dir gehen, denn ich interessiere mich außerordentlich für solche Geheimnisse der Natur; aber ich muß leider hinab in die Stadt.«
»So bringe ich ihn dir morgen abend; da leuchtet er auch noch.«
»Ich weiß nicht, ob ich dann noch in Ostromdscha sein werde.«
»Herr, willst du so schnell fort?«
»Ja.