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nicht wahrnehmen konnten, denn der Chef der platonischen Gendarmerie hatte sie zu einer Razzia auf die Epiker und Lyriker kommandiert, die der Verfassung zum Trotz in gewissen Spelunken in der Stadt hausten und dichteten. Es war also noch immer nicht gelungen, das versifizierende Gesindel gänzlich auszurotten.

      Wir überschritten eine Brücke und bemerkten darunter ein träge schleichendes Mittelding zwischen Bach und Fluß, das zwar mit grünlichem Farbenspiel optisch ganz interessant wirkte, aber aromatisch stark und nicht erfreulich auf die Nase fiel. Als ich unvorsichtig genug auf diesen pestilenzialischen Übelstand hinwies, empfing ich die Belehrung, daß ich die Wichtigkeit der Geruchsorgane wesentlich überschätze. Nach der Meinung der bedeutendsten Philosophen von Thales bis Kant sei die Nase ein ganz untergeordneter Sinn, auf den praktisch Rücksicht zu nehmen denkender Menschen absolut unwürdig wäre. Von dieser Maxime ausgehend lehne es die Platonische Republik grundsätzlich ab, etwas für die Stromreinigung zu tun, zumal es sich gezeigt habe, daß die Flußpestilenz gewisse Krankheiten begünstige, auf deren Erhaltung die Apotheker der Republik und die Leichenbalsamierer großen Wert legten. —

      Ebensowenig wie dieses fließende, gefielen mir die festen, monumentalen Gebilde, die sich auf den Plätzen der Stadt sehen ließen. Historisch genommen befanden sich ja die Bildhauer und Baumeister von jeher in schlimmer Lage, da sie ursprünglich in die allgemeine Verurteilung aller Künste einbegriffen waren. Und unter dem Druck dieser Verachtung litten sie natürlich in geistiger Hinsicht, selbst als man schon angefangen hatte, sie als leidige Unentbehrlichkeiten im Staatswesen zu erachten. Phidiasse und Michelangelos können sich nicht entwickeln, wo man ihresgleichen nicht verehrt, sondern eben nur duldet. Wir standen vor einem Werk, das ein Doppelmonument vorstellte und dem Genius des Musterstaates entsprechend einen philosophischen Gedanken in bronzener Massigkeit verkörperte. Es waren zwei riesige Gestalten, die hier als Dioskuren auftraten, so wie Goethe und Schiller in der Rietschel›schen Kolossalgruppe von Weimar. Nur daß die beiden Figuren sich hier in anderer, und zwar symbolisch gemeinter Anordnung präsentierten. Die eine war, wie zu erwarten, Plato, der erhabene Schutzpatron, der andere, wie aus der Inschrift hervorging: Immanuel Kant. Zum Ausdruck sollte gebracht werden, daß Kant›s Philosophie des transzendentalen Idealismus sich aus der Platonischen Ideenlehre entwickelt habe, oder anders gesagt, daß Kant auf den Schultern Platos stünde. Das wäre nun in Erz schwer auszudrücken gewesen, wenn nicht der Bildner auf den genialen Einfall geraten wäre, die Allegorie ganz wörtlich zu nehmen, das heißt, den Königsberger Denker tatsächlich dem Athener über die Schultern zu hängen und darauf reiten zu lassen. Dergestalt kam die Idee »Plato als Träger Kants« ganz klar heraus. Freilich blieben noch störende Einwände, so die anatomisch ganz falsche Gestaltung beider Männer, die schief eingeschraubten Beine und die unmöglichen Proportionen zwischen Kopf, Brust, Rücken und Extremitäten, Einwände, die indes in uns auch heimatliche Erinnerungen weckten, da wir ähnliche Skulpturen in unseren eigenen futuristischen Ausstellungen gesehen hatten.

      Die Philosophie fand in diesem Doppeldenkmal noch ein weiteres Symbolbereich, nämlich dadurch, daß der geräumige Sockel zu einer Bedürfnisanstalt ausgebaut war. Hierin lag der Absicht nach eine Ovation für Kant und seine berühmten Antinomien, da die reale Bestimmung des Sockels einen antinomischen Gegensatz zu der idealen Transzendenz des Oberbaues ausdrücken sollte. Außerdem barg die genannte profane Anstalt noch eine besondere philosophische Pointe: sie trug die Umschrift »Herakliteion«, zeigte im Innern das Relief Heraklits und darunter in griechischer Schrift dessen Hauptsatz παντα ρει (panta rhei, alles fließt), wonach nicht zu zweifeln, daß das Gesamtwerk sich sehr wohl in einen durchaus von Philosophen regierten Staatsorganismus einfügte. —

      Was die Baumeister anlangt, so lag für sie die Schwierigkeit einerseits in dem Mangel einer Tradition, andererseits an dem Platonischen Grundgesetz, welches die Schönheit als unsittliche Üppigkeit befehdet. Einige Architekten hatten sich dadurch geholfen, daß sie das Verhältnis zwischen Vorderfront und Rückseite umkehrten, indem sie den Privathäusern garstige Fassaden gaben, wie Kalkscheunen, während sie ganz hübsche architektonische Gliederungen in die von der Straße aus unsichtbaren Hinterfronten versteckten. Bei anderen hatte die Aufsichtsbehörde ein Auge nachsichtig zugedrückt. Wir sahen einige Barbierläden, Pfandleihen, Schlachthäuser und Abdeckereien, die ihre baulichen Modelle, wiewohl nur in schüchterner Anlehnung, von der Akropolis und vom Parthenon herholten; wogegen allerdings die Museen und überhaupt alle Staatsgebäude die strengste platonische Kunstfeindlichkeit anstrebten, so daß man sie beim ersten Anblick für Kornspeicher, Trödelschuppen oder Ochsenställe halten konnte.

      Eines dieser Staatsgebäude wurde uns als das Oberkriminalgericht bezeichnet, und wir hatten das Glück, gerade dem Schlußakt eines aufsehenerregenden Strafprozesses beizuwohnen. Dieser spielte schon seit Wochen und empfing seine Wichtigkeit dadurch, daß er eine das Staatswohl in seinem Lebensnerv berührende Angelegenheit betraf.

      Angeklagt war ein Mann, der als Führer einer zwar kleinen, aber sehr rührigen Anarchistenpartei galt. Das Programm dieser Ultra-Radikalen ging dahin, daß die Hauptnorm des Staates umgestürzt und dafür die Kunst, insonderheit die Poesie, als Herrscherin aufgerichtet werden sollte.

      Jener Führer, mit Namen Sarasalgo, hatte im Verlauf seiner revoluzelnden Ideen einen wahrhaft diabolischen Kunstgriff getätigt. Er veröffentlichte ein von ihm verfaßtes hexametrisches Lehrgedicht nach dem Vorbild des Lukrez, worin er die Grundgedanken der Platonischen Dialoge dichterisch darstellte und mit künstlerischem Schwung verherrlichte. Seine grausame List lag also in folgender ideellen Zwickmühle: Da ich den Plato und die ideelle Kalokagathie anjuble, so muß mich unser Inselstaat in jeder erdenklichen Weise bevorzugen, auszeichnen und sogar zum Regenten befördern. Gibt er mir aber die Gewalt, so habe ich diese doch nur als Poet errungen, durch meine brillanten, üppigen Hexameter, und wenn diese als preiswürdig anerkannt werden, so muß in logischer Folge dieser ganze Anti-Poeten-Staat zusammenbrechen.

      Der Staatsanwalt, eine Kreatur des Ministerpräsidenten, nahm die Zwickmühle genau am entgegengesetzten Ende auf. Wir hörten sein letztes Plaidoyer, das in den Worten mündete: »Der Angeklagte Sarasalgo geht durchaus fehl in der Annahme, daß wir ihm auf den schlüpfrigen Boden seiner Sophistik folgen werden. Für uns liegt der Fall evident so: er hat gedichtet, und damit ist die Voraussetzung des Strafparagraphen erfüllt. Wenn er in seinen Versen anscheinend Plato lobpreist, so erkenne ich darin nur ein Manöver, um aus dem Hinterhalt und auf Schleichwegen Straffreiheit zu ergaunern. Es liegt nicht so, daß er davonkommen darf, um den Staat zu ruinieren, sondern so, daß wir den Staat retten müssen, indem wir den Mann verurteilen. Schon haben wir uns einer Unterlassungssünde schuldig gemacht, da wir einige Exemplare seiner Dichtung hinausließen, anstatt sofort die Leibesfrucht seiner Muse abzutreiben, als sie von ihm trächtig wurde. Jetzt aber heißt es: durchgreifen!« Er beantragte die höchste zulässige Strafe und schloß mit einem an Voltaire anklingenden Kernworte, das soviel besagte als Ecrasez l›infame!

      Und die Infamie des Künstlers wurde wirklich getroffen. Das Verdikt lautete auf lebenslängliche Verbannung nach der Straf-Insel Krakaturi und Vernichtung aller Exemplare und Platten. Das Prinzip der Gerechtigkeit und Sittlichkeit im Platonischen Staat hatte gesiegt.

* * *

      Am nächsten Tage begaben wir uns in die Aula der Akademie, wo die Feierlichkeiten zum Hundertjahr-Jubiläum ihren Anfang nahmen. Als Einleitung gab es eine Festkantate für Soli, Chor und Orchester, deren musikalischer Sinn mir, wie ich vorausschicke, unverständlich blieb.

      Plato selbst hat die Stellung der Musik in seinem Staatskörper nicht ganz unzweideutig definiert. Als zur Gesamtkunst gehörig kann sie ja seiner prinzipiellen Verurteilung nicht entgehen, nichtsdestoweniger gestattet er in beschränktem Grade deren Ausübung, vornehmlich in Verbindung mit der Gymnastik. Aus einigen Stellen seines Werkes kann man sogar die Begünstigung eines Verfahrens herauslesen, das man als ein symphonisches Turnen bezeichnen darf, und wir hatten weiterhin Gelegenheit, derartigen Übungen beizuwohnen. Auch hier in der Aula wurden im Mittelteil des Festes Sonaten am Schwebereck, Rondos an der Kletterstange und kontrapunktierte Fugen am Springbock vorgeführt. Darüber hinaus verordnet Plato wörtlich, daß alle sanften und weichlichen Tonarten aus seiner Republik zu verweisen sind, die Musik solle seinen Bürgern weder Freude noch Traurigkeit einflößen; alle jonischen, lydischen und mixolydischen Harmonien, alle Trink- und Liebeslieder sind zu verbannen; er erklärt die vielsaitigen