Die Lehrerin las in Ilses Zügen und wußte, was in ihr vorging. »Gib mir deine Hand, du kleiner Brausekopf«, sagte sie freundlich, »und versprich mir, nicht wieder so stürmisch zu sein und deiner augenblicklichen Laune zu folgen, selbst wenn du glaubst, im Recht zu sein! Heute warst du es nicht einmal, du hast wirklich unappetitlich getrunken. Orla hat es gut gemeint, als sie dich darauf aufmerksam machte; du darfst ihr darum nicht böse sein. Es ist doch besser, jetzt als Kind zurechtgewiesen zu werden als später, wenn aus den schlechten Gewohnheiten bereits Fehler geworden sind, die bei einem Erwachsenen nicht mehr entschuldigt werden können. Siehst du das ein, Ilse?«
Vielleicht tat sie es, aber sie würde ein Ja nicht über die Lippen gebracht haben. Fräulein Güssow begnügte sich mit ihrem Stillschweigen und nahm es für eine Zustimmung.
»Nun wollen wir zurück in den Speisesaal gehen«, sagte sie, und Ilse wagte keine Widerrede. Sie folgte der Lehrerin mit niedergeschlagenen Augen, aus Furcht vor den vielen peinlichen Blicken, die sich alle auf sie, richten würden.
Als sie eintraten, war das Zimmer leer und die Frühstückszeit vorüber. Niemand war froher als Ilse, die sich wie erlöst vorkam.
»Ich habe noch einen Auftrag für dich, Ilse«, sagte die Lehrerin. »Fräulein Raimar wünscht deine Arbeitshefte zu sehen, du sollst auch gleich mündlich geprüft werden. Finde dich in einer Stunde in dem Konferenzzimmer ein! Du wirst dort einige deiner zukünftigen Lehrer und Lehrerinnen kennenlernen.«
»Wollen sie mich alle prüfen?« fragte Ilse etwas besorgt.
»Nein«, entgegnete das Fräulein, »aber sie werden zuhören, wenn Fräulein Raimar dich prüft. Später wirst du dann erfahren, in welche Klasse du kommst, und morgen nimmst du zum erstenmal am Unterricht teil.«
Ilse ging in ihr Zimmer und suchte ihre Hefte zusammen. Sie waren nicht in der besten Verfassung. Das deutsche Aufsatzheft war mit Tintenflecken verziert, und sogar einige Fettflecke machten sich darauf breit. Das französische Heft wurde ganz beiseite gelegt. Sie versuchte einige Seiten, die gar zu verschmiert aussahen, herauszureißen, aber durch diesen Gewaltstreich lockerten sich alle andern Blätter.
Nellie, die gerade eine freie Stunde hatte, sah erstaunt Ilses Treiben zu. »Was tust du?« fragte sie. »Willst du deine Bücher so an Fräulein Raimar vorzeigen? Das darfst du nicht. Hat deiner Herr Pastor dir dies erlaubt? Gib schnell, ich will dich blaues Umschläge drum wickeln! Das ist nett, und man sieht die alte Flecken nicht.«
»Gib her!« rief Ilse gereizt. »Sie sind gut so! Es ist mir ganz einerlei, ob Fräulein Raimar die Flecken sieht oder nicht.«
»Nicht so zornig, Fräulein Ilse! Sie sind eine kleine, unordentliche junge Dame. Würde es dir vielleicht spaßig sein, wenn Fräulein Raimar deine Buch mit spitze Finger hochhielte und sie alle Lehrer zeigte? O nein, das wäre dich nicht einerlei und nicht spaßig. Besonders wenn Herr Doktor Althoff, unser deutscher Lehrer, mit seine bekannte, höhnische Lachen dir so von die Seiten ansieht und fragt: ›Wie alt sind Sie, mein Fräulein?‹«
Obwohl Ilse ungeduldig erklärte, es wäre höchst unnütz, so viele Umstände wegen der dummen Bücher zu machen, setzte Nellie ihren Willen durch. »So, nun kannst du gehen«, sagte sie, als auch das letzte Heft in einem blauen Kleid steckte. »Nun bedanke dich für meine Mühe!«
»Du bist sehr gut, Nellie!« meinte Ilse. »Wie ist es dir möglich, so sanft und geduldig zu sein? Ich kann das nicht.«
»Oh, du lernst schon, Kind! Wirst noch eine ganz zahme, kleine Vogel sein!« entgegnete Nellie.
Um elf Uhr ging Ilse in das Konferenzzimmer. Es waren mehrere Lehrer und einige Lehrerinnen anwesend. Sie saßen um einen Tisch, Fräulein Raimar machte mit einigen freundlichen Worten die neue Schülerin mit ihren zukünftigen Lehrern bekannt. Darauf ließ sie sich die Schreibhefte reichen. Das Aufsatzheft fiel ihr zuerst in die Hand. Sie blätterte und las darin, und einigemal schüttelte sie den Kopf »Oft recht gute und klare Gedanken«, bemerkte sie zu dem neben ihr sitzenden Lehrer der deutschen Sprache, Doktor Althoff, »und dabei diese oberflächliche, flüchtige Schrift. Sehen Sie einmal, ›uns‹ mit einem ›z‹ geschrieben – ›Land‹ mit einem ›t‹. Da werden wir viel Versäumtes nachzuholen haben. Wie schreibst du ›Land‹, Ilse? Buchstabiere einmal!«
Ilse fühlte sich durch diese Frage verhöhnt. War sie denn ein kleines Mädchen aus der Abc-Klasse? Sie zögerte mit der Antwort.
Die Vorsteherin war nicht gewöhnt zu scherzen, sie sah die schweigende Ilse erstaunt an. »Wie du Land schreibst, möchte ich von dir wissen«, wiederholte sie in einem Ton, der jeden Zweifel, ob er ernst gemeint sei, ausschloß.
Ilse kräuselte etwas unwillig die Stirn, zog die Lippe in die Höhe und buchstabierte so schnell, daß man ihr kaum folgen konnte: L-a-n-d. Den Blick wandte sie zum Fenster, um Fräulein Raimar nicht anzusehen.
»Also nur flüchtig; ich dachte es mir«, sagte die Vorsteherin. »Wenn du in Zukunft deine Aufsätze machst, wirst du sehr aufmerksam sein. Fehler, wie ich sie in deinen Aufgaben finde, kommen bei uns in der dritten Klasse nicht mehr vor.«
Es wurden Ilse nun Fragen in den verschiedensten Fächern vorgelegt. Manchmal fielen die Antworten überraschend gut aus, zuweilen geradezu einfältig.
Im Französischen bestand sie gut. Monsieur Michael, der französische Lehrer, ein älterer Herr mit weißem Haar, sprach sie sogleich französisch an, und sie antwortete richtig und fließend.
Bei Miß Lead, der englischen Lehrerin, die ebenfalls im Institut wohnte, war Ilse weniger erfolgreich; sie holperte sehr, als sie die Antwort gab.
»Nun kannst du uns verlassen, Kind«, sagte Fräulein Raimar. »Deine Prüfung ist zu Ende. Später werde ich dir mitteilen, welche Klasse du besuchen wirst.«
Nach einer eingehenden Beratung wurde von der Lehrerkonferenz der Beschluß gefaßt, Ilse in die zweite Klasse zu geben, im Französischen sollte sie die erste besuchen.
»Ich glaube, Ilse wird uns viel Sorgen machen«, äußerte die Vorsteherin besorgt. »Sie ist widerspenstig und trotzig, und sie kann nicht den geringsten Tadel vertragen.«
»Sie hat ein gutes Herz«, fiel Fräulein Güssow lebhaft ein. »Ich habe noch keine Beweise dafür, aber ich lese es in ihren Augen. Ich bin überzeugt, daß ich mich nicht täusche. Mir ist klar, mit Strenge werden wir wenig ausrichten, dagegen hoffe ich, mit Liebe und Bestimmtheit wird es gelingen, ihren Trotz zu zähmen.«
»Das ist ganz meine Ansicht«, stimmte Monsieur Michael bei. »Sie werden sehen, meine Damen und Herren, Mademoiselle Ilse wird eine Zierde des Pensionates sein. Mit welcher Eleganz spricht sie französisch, wie gewählt setzt sie die Worte! Ah, sie ist ein Genie!«
»Ich wünsche von Herzen, daß Sie recht haben mögen«, entgegnete Fräulein Raimar und erhob sich von ihrem Platz. »An Liebe und Nachsicht wollen wir es nicht fehlen lassen; vielleicht gelingt es uns, Ilse verständig und gefügig zu machen.«
Am Abend, als Fräulein Güssow bereits die Runde gemacht hatte, als das Licht gelöscht und alles still im Hause war, rief Nellie: »Wachst du, Ilse?«
»Ja, was soll ich?«
»Zieh dir leise an! Wir wollen deinen kleinen Koffer auspacken!«
»Es ist aber dunkel!« meinte Ilse.
»O laß nur, ich habe schon ein Licht!«
Leicht und unhörbar stieg Nellie aus dem Bett und ging auf Strümpfen an ihren Schrank. Sie zog die oberste Schublade vorsichtig heraus und entnahm ihr eine kleine Kerze. Sie zündete sie an und stellte ein Buch davor, um jeden verräterischen Lichtschimmer nach draußen abzublenden. »Ist doch fein, nicht?« fragte sie. »Nun eile dich aber!« trieb sie Ilse an, die sich flüchtig ankleidete. »Wo hast du