»Und sein Vermögen hat er mitgenommen?«
»Ja.«
»Ist Euch das nicht aufgefallen? Pflegt ein Tourist sein ganzes, mehrere Millionen betragendes Vermögen mit sich herumzutragen?«
»Nein; aber Small Hunter ist kein Tourist zu nennen. Er hat die Absicht, sich in Aegypten, Indien oder sonstwo anzukaufen. Nur das ist der Grund, daß er sein ganzes Eigentum flüssig gemacht hat.«
»Ich werde Euch beweisen, daß der Grund ein ganz anderer ist. Bitte, sagt mir vorher, ob sein Körper eine auffällige Eigenschaft, irgend eine Abnormität besitzt!«
»Abnormität? Wieso? Wozu wollt Ihr das wissen?«
»Das werdet Ihr erfahren. Antwortet zunächst.«
»Wenn Ihr es wünscht, meinetwegen! Es gab allerdings so eine Abnormität, welche aber äußerlich nicht zu bemerken war. Er hatte nämlich an jedem Fuße sechs Zehen.«
»Das wisset Ihr genau?«
»So genau, daß ich es beschwören kann.«
»Hatte der Mann, dem Ihr die Millionen verabfolgt habt, auch zwölf Zehen?«
»Wie kommt Ihr zu dieser sonderbaren Frage? Schreibt das Gesetz vor, daß man, wenn man jemandem eine Erbschaft auszahlt, die Zehen des Mannes zu zählen hat?«
»Nein. Aber der Mann, dem Ihr dieses große Vermögen ausgeantwortet habt, hat nur zehn Zehen in seinen Stiefeln.«
»Unsinn! würde ich rufen, wenn ihr nicht Old Shatterhand wärt.«
»Ruft es immerhin; ich nehme es Euch nicht übel. Ruft es dann noch einmal, wenn ich Euch sage, daß der echte, wirkliche Small Hunter mit seinen zwölf Zehen im Gebiete der tunesischen Beduinen vom Stamme der Uelad Ayar begraben liegt!«
»Begra – —«
Er sprach das Wort nicht aus, trat zwei Schritte zurück und starrte mich mit großen Augen an.
»Ja, begraben,« fuhr ich fort. »Small Hunter ist ermordet worden, und Ihr habt sein Erbe einem Betrüger verabfolgt.«
»Einem Betrüger? Seid Ihr bei Sinnen, Sir? Ihr habt gehört, daß ich vorhin sagte, Small Hunter sei mein bester Freund, und doch sollte ich einen Betrüger mit ihm verwechselt haben?«
»Allerdings.«
»Ihr irrt; Ihr müßt irren, unbedingt irren. Ich bin mit Small Hunter so befreundet, war mit ihm so intim, und wir kannten und kennen uns gegenseitig so genau, daß ein Betrüger selbst bei der größten Aehnlichkeit schon in der ersten Stunde unsers Verkehrs Gefahr laufen würde, von mir durchschaut zu werden.«
»Gefahr laufen? Ja, das gebe ich zu; aber die Gefahr ist für ihn sehr glücklich vorübergegangen.«
»Bedenkt, was Ihr sagt! Ihr seid Old Shatterhand. Ich muß annehmen, daß Ihr gekommen seid, mir nicht nur eine so unbegreifliche Mitteilung zu machen, sondern auch nach derselben zu handeln.«
»Das ist allerdings meine Absicht. Uebrigens habe ich bereits gehandelt, auch in Bezug auf Euch, indem ich Euch von Southampton aus die beiden Briefe schrieb.«
»Ich weiß von keinem Briefe!«
»Dann gestattet mir, Euch Eure beiden Antworten vorzulegen.«
Ich nahm die Briefe aus meiner Tasche und legte sie ihm auf den Tisch. Er ergriff und las den einen und dann den andern. Ich beobachtete ihn dabei. Welch eine Veränderung ging da in seinen Zügen vor! Als er den zweiten gelesen hatte, langte er wieder nach dem ersten, dann abermals nach dem zweiten; er las jeden dreimal, viermal, ohne ein Wort zu sagen. Die Röte wich aus seinem Gesichte; er wurde leichenblaß und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, auf welcher sich Tropfen bildeten.
»Nun?« fragte ich, als er dann immer noch schwieg und lautlos in die Papiere starrte. »Kennt Ihr die Briefe nicht?«
»Nein,« antwortete er mit einem tiefen, tiefen Atemzuge, indem er sich mir wieder zuwendete.
Seine sonst bleichen Wangen röteten sich unter den Augen stark. Das war der Schreck, die Aufregung.
»Aber seht die Couverts! Die Briefe sind aus Eurer Office, wie Euer Stempel beweist.«
»Ja.«
»Und von Euch unterschrieben!«
»Nein!«
»Nicht? Wir haben da zweierlei Handschrift. Der Brief ist von einem Eurer Leute geschrieben und dann von Euch unterzeichnet worden.«
»Das erstere ist richtig, das letztere aber nicht.«
»Also ein Schreiber von Euch hat ihn doch verfaßt?«
»Ja; es ist Hudsons Hand. Es ist mehr als gewiß, daß er ihn geschrieben hat.«
»Und Eure Unterschrift —?«
»Ist – gefälscht, so genau nachgeahmt, daß nur ich selbst im stande bin, zu sehen, daß es Fälschung ist. Mein Gott! Ich habe Eure Fragen und Reden für inhaltslos gehalten; hier aber sehe ich eine Fälschung meiner Unterschrift vor Augen; es muß also etwas vorliegen, was Euch die Berechtigung giebt, so unbegreifliche Dinge vorzubringen!«
»Es ist allerdings so. Der kurze Inhalt alles dessen, was ich Euch zu sagen habe, ist in den Worten ausgedrückt, welche Ihr schon vorhin gehört habt: Der echte Small Hunter ist ermordet worden, und Ihr habt sein Vermögen nicht nur einem Betrüger, sondern sogar seinem Mörder übergeben.«
»Seinem – Mörder —?« wiederholte er wie abwesend.
»Ja, wenn dieses Wort auch nicht so ganz genau wörtlich zu nehmen ist. Er selbst hat ihn nicht ermordet, ist aber mit im Komplott gewesen und hat moralisch die gleiche Schuld, als wenn er die tödliche Waffe geführt hätte.«
»Sir, ich befinde mich wie im Traume! Aber es ist ein böser, ein schrecklicher Traum. Was werde ich hören müssen!«
»Habt Ihr Zeit, eine ziemlich lange Geschichte anzuhören?«
»Zeit – Zeit! Was fragt Ihr da erst! Hier habe ich die Fälschung in den Händen; sie sagt mir, daß meine Office zu einem Betruge benutzt worden ist. Da muß ich Zeit haben, selbst wenn Eure Erzählung Wochen in Anspruch nehmen sollte. Setzt Euch, und gestattet mir einen Augenblick, meinen Leuten zu sagen, daß ich jetzt für keinen Menschen mehr zu sprechen bin!«
Wir hatten in der Erregung beide unsere Plätze verlassen; nun setzte ich mich wieder nieder. Ja, auch ich war erregt. Ich hatte die Ueberzeugung gehegt, daß meine Briefe an die richtige Adresse gekommen seien, und mußte nun das Gegenteil davon hören. Die Halunken hatten ihren Plan ausgeführt. Vielleicht war alle unsere Mühe, waren alle die Wagnisse, welche wir unternommen hatten, vergeblich gewesen!
Als der Anwalt den beabsichtigten Befehl gegeben hatte, setzte er sich mir gegenüber nieder und winkte mir mit der Hand, zu beginnen. Sein Gesicht war noch immer blaß wie vorher; ich sah, daß seine Lippen zitterten; es gelang ihm nur schwer, äußerlich ruhig zu erscheinen. Der Mann, dessen Ehre auf dem Spiele stand, that mir leid. Seine persönliche Ehre, des war ich überzeugt, konnte nicht angegriffen werden; aber in seiner Office war eine Fälschung vorgekommen; er hatte sich von einem raffinierten Schwindler betrügen lassen; es handelte sich dabei um ein großes Vermögen – wenn die Thatsachen an die Oeffentlichkeit gelangten, so war er vernichtet.
Ich war überzeugt, daß Thomas und Jonathan Melton nicht allein gehandelt, sondern auch Harry Meltons Hilfe in Anspruch genommen hatten. Darum mußte sich mein Bericht auch auf letzteren erstrecken. Ich erzählte also alles, was ich von den drei Personen wußte, was ich mit ihnen und gegen sie erlebt hatte. Die Erzählung dauerte natürlich sehr lange, und doch unterbrach der Anwalt sie mit keinem Ausruf. Selbst als ich geendet hatte, saß er noch eine Zeitlang schweigend da, indem er den Blick starr in die Ecke gerichtet hielt. Dann stand er von seinem Stuhle auf, ging einigemal im Zimmer hin und her, blieb schließlich vor mir stehen und fragte:
»Sir, alles, was ich jetzt gehört habe, ist wahr, ist die reine Wahrheit?«
»Ja.«
»Verzeiht