»Dieser Ort würde mir allerdings sehr bequem liegen. Wer aber ist der Mann, den Sie Sennor Enriquo nennen?«
»Ein Gast von mir, dessen Name im Fremdenbuche gleich vor dem Ihrigen steht. Haben Sie ihn nicht gelesen?«
Das hatte ich nicht gethan. Ich griff also nach dem Buche und las: »Harry Melton, Heiliger der letzten Tage.« Diese Worte waren allerdings in englischer Sprache geschrieben. Also ein Mormone! Wie kam der hierher? Welche Angelegenheit konnte ihn aus der großen Salzseestadt soweit südlich nach Guaymas geführt haben?
»Warum blicken Sie so nachdenklich in das Buch?« fragte der Wirt. »Ist an dem Eintrage vielleicht etwas Besonderes, etwas Auffälliges zu bemerken?«
»Eigentlich nicht. Sie haben die Worte gelesen?«
»Ja, aber nicht verstanden. Der Sennor ist so ernst, so stolz und so fromm, daß ich ihn nicht mit Fragen belästigen wollte. Wahrscheinlich sprach ich seinen Namen falsch aus, und da erklärte er mir, daß Harry genau soviel wie das spanische Enriquo bedeute. Darum nenne ich ihn so.«
»Er wohnt also bei Ihnen?«
»Er schläft bei mir, geht des Morgens fort und kommt des Abends wieder,«
»Was treibt er inzwischen?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe keine Zeit, mich um jeden meiner Gäste zu bekümmern.«
Ja, der kleine Mann spielte und schlief, schlief und spielte und konnte also unmöglich dazu kommen, einem
Gaste eine solche Aufmerksamkeit zu schenken. Er fuhr fort.
»Ich weiß eben nur seinen Namen und daß er auf ein Schiff nach Lobos wartet. Der Sennor spricht sehr wenig. Seine Frömmigkeit ist rühmenswert. Schade nur, daß er nicht Domino spielen kann!«
»Woher wissen Sie, daß er fromm ist?«
»Weil er den Rosenkranz beständig durch die Finger gleiten läßt und niemals kommt oder geht, ohne sich vor dem Heiligenbilde, welches dort in der Ecke hängt, zu verbeugen und Weihwasser aus dem Becken dort an der Thüre zu nehmen.«
Ich wollte eine Bemerkung machen, hielt es aber für besser, zu schweigen. Ein Mormone mit dem Rosenkranze! Vielweiberei und Weihwasser! Das Buch Mormon und die Verbeugung vor einem Heiligenbilde! Dieser Mann war jedenfalls ein Heuchler, und seine Heuchelei mußte einen Grund haben.
Es war nicht möglich, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, denn Sennorita Felisa brachte mir jetzt eine Tasse, welche eine braune, dicke Materie enthielt, und wünschte mir, wohl zu speisen. Da der Wirt sich diesem Wunsche anschloß, so vermutete ich ganz rechtmäßigerweise, daß ich den Trank genießen solle. Ich nahm also die Tasse an den Mund und kostete, kostete wieder und kostete abermals, bis meine Zunge mir sagte, daß ich es mit einer Mixtur von Wasser, Sirup und verbranntem Mehle zu thun hatte.
»Was ist das?« fragte ich.
Da schlug Felisa vor Erstaunen die Hände zusammen und rief aus:
»Ist das Möglich, Sennor? Haben Sie noch keine Schokolade getrunken?«
»Schokolade?« fragte ich, wobei mein Gesicht einen nicht eben sehr geistreichen Ausdruck gehabt haben mag. »Ja, die habe ich schon oft getrunken.«
»Nun, das ist ja welche!«
»Schokolade? Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht!«
»Nicht wahr?« nickte mir der Wirt erfreut zu. »Ja, meine Schokolade ist weithin berühmt. Wer weiß, was Sie an anderen Orten für Zeug getrunken haben. Die meinige aber ist so echt, ist so einzig, daß ein jeder, der zum erstenmale zu mir kommt, sich darüber verwundert und gar nicht glauben will, daß es Schokolade ist. Hieraus mögen Sie ersehen, daß Sie bei mir alles vortrefflich finden werden.«
Ich war heimlich ganz anderer Meinung, hielt es aber nicht für nötig, ihm dies zu sagen, sondern erkundigte mich:
»Was werden Sie mir als Abendbrot vorsetzen, Don Geronimo?«
»Abendbrot?« fuhr er überrascht auf und erklärte mir dann, indem er auf die Tasse zeigte: »Da steht es ja; das ist es!«
»Ah so! Was geben Sie als Frühstück?«
»Eine Tasse meiner unübertrefflichen Schokolade.«
»Als Mittagessen?«
»Wieder eine Tasse. Das ist das beste, was man genießen kann.«
»Wer aber Brot und Fleisch oder ähnliches haben will?«
»Der muß zum Bäcker und zum Fleischer gehen.«
»So sagen Sie, ob Sie Wein haben. Die Schokolade hilft nicht gegen den Durst.«
»O, ganz ausgezeichneten! Wollen Sie ein Glas?«
»Ja. Was kostet es?«
»Dreißig Centavos.«
Das war nach deutschem Gelde ein halber Thaler. Don Geronimo gab mir die Ehre, den Wein selbst zu holen, reichte ihn aber seiner Tochter anstatt mir. Sennorita Felisa trank das Glas halb aus, ohne eine Miene zu verziehen, und gab es mir dann mit einem holdseligen Lächeln. Ich nahm einen kleinen Schluck, welcher einen sofortigen Hustenanfall zur Folge hatte. Der »Wein« war das reinste Gift, die wahre Schwefelsäure.
»Trinken Sie langsam, langsam!« warnte mich der Wirt. »Mein Wein ist viel zu stark für Sie, aus den köstlichsten Trauben gekeltert.«
»Ja, er ist mir allerdings zu stark, Don Geronimo,« hustete ich. »Erlauben Sie, daß ich zum Bäcker und zum Fleischer gehe!«
»So trinken Sie das Glas nicht vollends aus?« fragte die Sennorita.
»Nein. Ich habe leider allzu große Rücksicht auf meine Gesundheit zu nehmen.«
Da führte sie das Glas an ihren Rosenmund, leerte es, wieder ohne eine Miene zu verziehen, und bat mich dann in zutraulichem Tone:
»Wenn Sie zum Bäcker und Fleischer gehen, so bringen Sie mir etwas mit, Sennor. Noble und aufmerksame Gäste pflegen dies stets zu thun.«
Nicht übel! Vier und eine halbe Mark zahlen, dafür dreimal Mehl- und Sirupwasser, einen Platz in der wahrscheinlich starkbevölkerten Hängematte und dazu die Familie des Wirtes mit Proviant versorgen! Meson de Madrid! Das beste Hotel der Stadt! O Stadtschreiber, Stadtschreiber, deinen guten Rat und deine Empfehlung dieses Hauses in allen Ehren, aber ich will mich doch einmal weiter umsehen!
Ich ging, natürlich ohne meine verräterische Absicht zu verraten. Volle zwei Stunden lang beschäftigte ich mich mit der Suche nach einem besseren Unterkommen, gelangte aber schließlich zu der Ueberzeugung, daß der Stadtschreiber recht gehabt hatte, denn gegen die Höhlen, welche ich sah, war der Meson de Madrid ein Prachtpalast. Ich kaufte also für einen Peso Fleisch, welches, unter uns gesagt, ganz leidlich »muffig« war, nahm vom Bäcker eine Anzahl platter Maiskuchen mit, welche an Stelle unsers Brotes gegessen werden, und wurde infolge dieser Vorräte daheim mit großer Anerkennung empfangen. Die liebe Felisa nahm mir, ohne lange zu fragen, sofort alles ab und brannte das Herdfeuer an, um das Fleisch zu braten. Die drei Jungens bemächtigten sich der Maiskuchen, welche sie wie Knochen zwischen den Zähnen zerknackten, und Donna Elvira richtete sich in der Hängematte empor, aus dem Schlummer geweckt durch den Bratenduft, welcher sich zu verbreiten begann. Leider konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen, denn die einzige Lampe, welche es gab, stand fern von ihr auf dem Tische, an welchem ich Platz genommen hatte. Der Wirt gesellte sich in freundlicher Weise zu mir, schob mir die Dominosteine hin und sagte:
»Noch einige Spiele bis wir essen, Sennor. Es gibt ja nichts anderes zu thun.«
Wir spielten also, bis gedeckt wurde, das heißt, bis Sennorita Felisa mir dasjenige Stück Fleisch, welches am muffigsten gewesen war, ohne Teller und ohne alles, dafür aber mit ihrem sonnigsten Lächeln vorlegte. Die andern Stücke wanderten mit erstaunlicher Schnelligkeit ihrer Bestimmung entgegen, die leider nicht in meinem hungrigen Magen zu suchen war. Ich hatte mich, oder vielmehr man hatte mich aus dem Gaste in den Gastgeber