Dominicé unterbrach ein Gähnen, das er sich nicht die Mühe genommen hatte, hinter der Hand zu verbergen, seine Gesichtsfarbe war von einem ungesunden Grau, er nippte an dem heißen Kaffee. Seine Augen waren müde und ausdruckslos, ohne Glanz.
»Entschuldigt mich einen Augenblick«, sagte er, stand auf, tastete seine Taschen ab, so, als wolle er sich vergewissern, daß er ein notwendiges Requisit bei sich habe, dann ging er mit schleppenden Schritten über den in diesem Augenblick leeren Tanzplatz. Nach einigen Minuten kam er wieder, die Schritte, die Bewegungen des Körpers schienen die niederdrückende Müdigkeit wie ein staubigschweres Kleid abgestreift zu haben.
»Ja, die Geschichte mit Crawley«, sagte er, »ist merkwürdig. Merkwürdig für Laien, aber nicht für mich. Unser Perzeptionsvermögen«, und er begann eine lange psychologische Erklärung, die mit vielen Fremdwörtern beweisen sollte, daß das Nicht-Erkennen eines sonst bekannten Menschen eine alltägliche Angelegenheit sei.
So vertieft war der Professor in seine Erklärung, daß er ein wenig erschrak, als ein Vorübergehender ihn streifte. Ein Mann mit Wulstlippen war dies, die Poren der Gesichtshaut waren auffallend groß. Er entschuldigte sich wortreich. Neben ihm ging eine Frau, bei deren Anblick Thévenoz erregt aufspringen wollte. Während der Mann eifrig auf den Professor einsprach und dabei Madge anstarrte, flüsterte Thévenoz seiner Freundin zu:
»Das ist die Frau, die heute morgen Crawley besucht hat. Ich muß sie sprechen. Ich muß ihren Namen wissen –, sie soll mir sagen, was sie gewollt hat.«
Aber Madge hielt ihn zurück. Sie tat eifersüchtig – ob sie es in Wirklichkeit war, konnte nicht festgestellt werden –, genug, sie packte Thévenoz' Hand:
»Du wirst sitzen bleiben«, und ihre Stimme klang so drohend, daß Thévenoz gehorchte, denn eine Szene in einem öffentlichen Lokal war nicht nach seinem Geschmack.
Der Mann mit der großporigen Gesichtshaut hatte sein Gespräch mit dem Professor beendet, er verbeugte sich vor Madge und stellte sich vor: »Baranoff« (auf der zweiten Silbe betont). Dann entfernte er sich mit der hochgewachsenen Frau, die Thévenoz' Interesse erregt hatte.
»Wer war das?« fragte Madge. Der Professor seufzte laut und gründlich. Sein Gesicht war noch grauer als sonst und ängstlich verzogen.
»Eine dunkle Persönlichkeit«, sagte er, »ein Russe, Baranoff heißt er, der, wie ich glaube, in irgendeiner Beziehung zu der Sowjetgesandtschaft steht, aber offiziell will die Delegation nichts mit ihm zu tun haben. Die Regierungen brauchen heutzutage, scheint es, derartige Subjekte«, Dominicé ballte die Fäuste auf dem Tisch, wie in hilfloser Wut, »um ihre dreckigen Geschäfte erledigen zu lassen. Geht etwas schief, so läßt man sie fallen und wäscht seine Hände in Unschuld. Wir leben in einer schmutzigen Zeit.«
»Und die Frau, die bei ihm war?« fragte Madge. »Thévenoz interessiert sich für sie, er wollte sie ansprechen, aber das dulde ich nicht.«
»Die Frau? Seine Sekretärin. Eine schöne Frau. Ich bin ihr einmal vorgestellt worden. Sie schien Mitleid mit mir zu haben. Natalja Ivanovna Kuligina heißt sie.«
»Sie kannte Crawley, den Sekretär«, platzte Thévenoz heraus. »Sie hat ihn heute morgen besucht, sie nannte ihn armer Junge. Mitleidig scheint sie zu sein. Ich wollte sie fragen, was sie eigentlich im Spital wollte, aber wenn Madge ihren Rappel hat…«
»Aber Jonny«, sagte Madge gefühlvoll. »Du solltest doch stolz sein, daß ich eifersüchtig bin.« Und sie legte ihre Hand auf Thévenoz' Schulter, den die unerwartete Zärtlichkeit erstaunte.
»Sie kannte Crawley«, sagte der Professor und stützte den Kopf in die Hand. »Ich glaube wohl, daß sie Crawley kannte.«
Aber als Thévenoz und Madge in ihn drangen, sich ein wenig klarer auszudrücken, schüttelte Dominicé nur den Kopf. So ließen sie ihn schließlich allein sitzen.
Zweites Kapitel
1
Die Morgenblätter des nächsten Tages beschäftigten sich mit dem Tode des Sekretärs Crawley. Das ernste »Journal de Genève«, das seinen Ehrgeiz darein setzte, so dezent zu sein, daß auch sechsjährige Kinder seine Prosa verzehren durften, ohne Schaden an ihrer Seele zu nehmen, sprach in gefühlvollen Worten von dem Tode eines hoffnungsvollen jungen Diplomaten, der eines geheimnisvollen Todes gestorben sei. Am Schlusse des Artikels wurde andeutungsweise gefragt, ob hinter diesem Verbrechen nicht die Hand des Erzfeindes westlicher Kultur zu suchen sei. – Diese anscheinend harmlose Frage hatte einen geharnischten Protest der Sowjetdelegation zur Folge, der dann im Abendblatt in winzigen Buchstaben gerade am Schluß des redaktionellen Teiles erschien – und übersehen wurde. – Die »Tribune de Genève« hatte einen Toxikologen angefordert, der ausgezeichnet und geistvoll über das ehrwürdige Alter der Gifte plaudern konnte: dieser berichtete vom Bilsenkraut und der Tollkirsche, die auch zu Liebesfiltern gebraucht worden seien. Das sozialistische »Travail« brachte, wie gewohnt, die Vergiftung des jungen Diplomaten mit der Korruption der bürgerlichen Gesellschaft in Verbindung und fand dadurch einen neuen Weg, von den Bankskandalen der letzten Zeit zu sprechen, was wöchentlich mindestens sechsmal geschah, denn so oft erschien dieses Blatt.
Aber auch im Ausland fand der geheimnisvolle Vorfall gebührende Beachtung. Besonders in der Heimat der Kriminalromane – und das Königreich Großbritannien kann diesen Titel ruhig beanspruchen – schwelgte die Nachrichtenpresse in fingerbreiten Schlagzeilen:
»Mysterious Death of the Secretary of Sir Eric Bose!« (dies die Überschrift im »Globe«) war eine der bescheidensten. Aber, wie gesagt, es gab nicht viel mitzuteilen. Immerhin hatte die Meldung eine nicht ganz gewöhnliche Wirkung, und zwar äußerte sich diese folgendermaßen:
Gegen zwei Uhr nachmittags (am Morgen waren die Meldungen über Crawleys Tod erschienen) trafen sich zwei Herren am Telegraphenschalter der Hauptpost in Genf. Sie waren beide ungeduldig und kämpften höflich um den Vorrang. Den einen kannte der Beamte als eifrigen Kunden (seine sportlichen Allüren, Golfhosen, buntes Hemd wollten nicht recht zu seiner ungesunden Gesichtsfarbe passen): es war der Völkerbundskorrespondent des »Globe«, der behauptete, die Referate der Abrüstungskonferenz hätten ihm ein chronisches Magenleiden eingebracht und er sei ein Märtyrer seines Berufes. Fast hätte dieser Herr im Kampf um den Vortritt am Schalter den Sieg davongetragen. Aber der andere Herr, der dunkel und unauffällig gekleidet war und trotz der Hitze einen steifen Hut trug, hatte einen so unangenehmen Blick, daß der eingeschüchterte Korrespondent schließlich doch den Platz freigab.
Der Herr mit dem unangenehmen Blick reichte einen Zettel durch den Schalter, der trotz seiner Kürze den Schalterbeamten stutzig machte. Der Beamte fühlte sich verpflichtet, eine leise Frage zu stellen, die der Herr durch das Vorzeigen einer Karte beantwortete.
»Gewiß, Monsieur«, sagte der Beamte diensteifrig, »in diesem Falle kann ich das Chiffre-Telegramm natürlich ohne weiteres abschicken. Aber Sie werden begreifen, daß dies nicht jedem gestattet werden kann. Auch wir in der Schweiz haben unsere militärischen Geheimnisse…«
Aber der Herr im steifen Hut schien sich für die Landesverteidigung der Schweiz wenig zu interessieren, er winkte barsch ab, seine Frage nach dem Preis war in ein Wort gepreßt, er zahlte und führte als Abschiedsgruß zwei Finger zum Hutrand. Der Beamte aber stand auf und verbeugte sich, was für einen Postbeamten, selbst wenn er Genfer ist, immerhin nicht ganz alltäglich ist.
»Übrigens, verzeihen Sie«, fragte der Korrespondent des »Globe«, »wer war der Herr vor mir? Es kommt mir vor, als hätte ich ihn schon ein paarmal gesehen…«
»Das kann sein«, erwiderte der Postbeamte, froh, die Langeweile des heißen Nachmittags mit einem Gespräch zu zersplittern. »Er war schon ein paarmal hier, aber nur um recht harmlose Telegramme aufzugeben, meistens Glückwünsche und andere unwichtige Sachen. Ich hab immer gedacht, er sei irgend ein Kammerdiener.«
Der Korrespondent pfiff so laut, daß der Beamte ihn besorgt anblickte.
»Natürlich«, sagte der magenkranke