Beim sukzessiven Zweitspracherwerb sind die Kinder in einer anderen Situation als in bilingualen Familien. Die Erzieherinnen und Lehrkräfte sind in der Regel einsprachig, die Sprachentrennung erfolgt nach dem Prinzip: Familiensprache zu Hause, Umgebungssprache im Kindergarten. Der Gebrauch zweier Sprachen hat für die Kinder eine andere Bedeutung, da häufig nur zu Hause die Familiensprache (oft neben anderen Sprachen) und im Kindergarten nur die Umgebungssprache gesprochen wird. So wird z. B. der Wortschatz bestimmter Lebensbereiche, die kennzeichnend für den Kindergarten sind, auch nur in der Umgebungssprache erworben.
Aufgrund der Beobachtung, dass der Erwerb zweier Sprachen in bilingualen Familien häufig erfolgreich bewältigt wird, wird zu Recht geschlossen, dass Mehrsprachigkeit im Prinzip kein Problem sei. Die Lernbedingungen müssen hierfür jedoch optimal sein. Vor allem muss davor gewarnt werden, dass bei Kindern, die mehrere Sprachen lernen und die in der einen oder anderen Sprache Defizite aufweisen, Probleme ausschließlich auf Seiten des Kindes gesehen werden. Kommen mehrsprachige Kinder im Alter von drei Jahren in eine Kindertageseinrichtung, ist dies häufig der Beginn des institutionellen Zweitspracherwerbs. Werden dann zum Zeitpunkt der Einschulung sprachliche Kompetenzen erwartet, die mit denen einsprachiger Kinder vergleichbar sind, bleiben den Kindern bis dahin nur drei Jahre Zeit. In der Schule kann dies zu Problemen führen, wenn das sprachliche Lernen mit dem Leistungsvergleich mit einsprachigen Kindern, die in der Regel sechs Jahre Zeit hatten, um sich eine Sprache anzueignen, und mit der Leistungsbewertung verbunden wird. Ein weiteres Problem entsteht dann, wenn in der Einrichtung viele Kinder sind, die ebenfalls die Umgebungssprache lernen müssen. Es entstehen Situationen, in denen die Erzieherinnen oder die Lehrkräfte nahezu die einzigen Sprachvorbilder in der Umgebungssprache Deutsch sind.
Eingewanderte Menschen in monolingualen Gesellschaften müssen die Mehrheitssprache als wichtigstes Kommunikationsmittel akzeptieren und mit der Abwertung ihrer Herkunftssprachen leben. Die Kinder und Jugendlichen sind jedoch auf die Bewahrung ihrer Mehrsprachigkeit als Basis für die Entfaltung von Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe angewiesen, denn in ihren Familien und in vielen sozialen Kontexten ist die Herkunftssprache nach wie vor fest verankert (vgl. Kracht, 2007). Wie Chlosta & Ostermann (2017) zeigen, sind mehrsprachige Lebenswelten in Deutschland vielfältig und differenziert, in vielen Familien spielen die Herkunftssprachen über mehrere Generationen eine Rolle, immer wieder handelt es sich um mehrere Herkunftssprachen (z. B. Kurdisch und Türkisch oder marokkanisches Arabisch, Französisch und eine Berbersprache). Deutsch ist häufig eine weitere Familiensprache. Die einsprachige Mehrheitsgesellschaft ist geneigt, diesen Umstand zu ignorieren. Häufig wird auf kulturelle Differenzen verwiesen, verbunden mit einem negativ-abwertenden Unterton (vgl. die Rede von der »deutschen Leitkultur«). Dabei ist in der bildungspolitischen Debatte durchaus eine Wertigkeit der Sprachen zu beobachten: Englisch und Französisch werden mit großem institutionellen Aufwand gefördert, in vielen Bundesländen ist eine der beiden Sprachen ab der 1. oder 3. Klasse zweistündiges Unterrichtsfach. Vor dem Hintergrund, dass in den 1980er und 1990er Jahren Förderstunden für mehrsprachige Kinder radikal gekürzt wurden, wird deutlich, dass es anerkannte und wichtige Sprachen einerseits und eher als unbedeutsam empfundene Sprachen andererseits gibt.
Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die zwischen Fremdspracherwerb und Zweitspracherwerb. Fremdspracherwerb bedeutet, dass die zweite Sprache in einem Land erworben wird, in dem diese Sprache nicht gesprochen wird. Englischunterricht an deutschen Schulen ist Fremdsprachunterricht, ebenso Deutschunterricht in England. Von Zweitspracherwerb wird hingegen gesprochen, wenn die zu lernende Sprache zur gleichen Zeit die Umgebungssprache ist. Er vollzieht sich unter mehr oder weniger pädagogischer Einflussnahme und führt zu mehr oder weniger gutem Beherrschen zweier oder mehrerer Sprachen. Mit dieser Unterscheidung geht eine weitere Differenzierung einher: Eine Fremdsprache muss man lernen, eine Zweitsprache wird hingegen eher in ungesteuerten Kontexten erworben. Bei der Unterscheidung zwischen Fremd- und Zweitspracherwerb muss zudem beachtet werden, dass die Ziele des Lernprozesses höchst unterschiedlich sein können. Im Rahmen des institutionell organisierten Fremdsprachenunterrichts steht häufig die Beherrschung des schriftsprachlichen Registers im Vordergrund. Die Unterweisung kann einer systematischen Progression folgen, die der Logik des Sprachsystems geschuldet ist. Beim Zweitspracherwerb müssen die Lernenden demgegenüber von Beginn an in der Zweitsprache kommunizieren. Für erwachsene Arbeitsmigranten ergibt sich z. B. nicht immer die Notwendigkeit, in der Zweitsprache schriftlich zu kommunizieren. Die Kommunikation im Alltag erfordert vielmehr einen bestimmten Wortschatz und die sprachliche Korrektheit wird der kommunikativen Absicht untergeordnet. So kann es geschehen, dass sich bei Erwachsenen die sprachlichen Fähigkeiten in der Zweitsprache nur so weit entwickeln, wie dies zur erfolgreichen Kommunikation im Alltag benötigt wird.
1.2 Bildungsbenachteiligung
Bis zum Beginn der 2000er Jahre war die Frage der ausländischen Staatsangehörigkeit eine zentrale Größe in der Bildungsstatistik. Seit der Änderung des Staatsbügerschaftsrechts im Jahre 2003 ist der Passbesitz jedoch keine Kategorie, mit der sich die Vielsprachigkeit der Schüler*innen erfassen lässt. Seit dem Jahr 2003 wird in Bildungsstatistiken die Kategorie »Migrationshintergrund« angewendet (Beauftragte, 2020, S. 12ff). Demnach hat eine Person einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland geboren ist oder keinen deutschen Pass hat. In der Schulstatistik wird darüber hinaus häufig der nicht deutsche Sprachgebrauch als Teilaspekt des Migrationshintergrunds erfasst. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts hatten im Jahr 2018 20,8 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund, das sind 25,5 %, davon hatte etwa die Hälfte einen ausländischen Pass. Die Zahlen zum sogenannten Migrationshintergrund sagen nicht unbedingt etwas über die Mehrsprachigkeit der Familien aus. So gibt es Familien mit Migrationshintergrund, in denen fast ausschließlich Deutsch gesprochen wird, andererseits gibt es nicht wenige Familien der sogenannten dritten Generation, in denen die Herkunftssprache(n) der Großelterngeneration nach wie vor eine der Familiensprachen ist (sind). So ist davon auszugehen, dass die deutsche Gesellschaft insgesamt wesentlich vielsprachiger ist, als es die Zahlen vermuten lassen (Chlosta & Ostermann, 2017)
Der Begriff Migrationshintergrund wird von Seiten der Migrationspädagogik kritisiert (Mecheril 2010; Dirim & Mecheril, 2018): Mit der Betonung auf dieses eine Merkmal wird eine Differenzkategorie zur wichtigsten Variable, andere Kategorien, wie z. B. der sozioökonomische Status, werden erfasst, verschwinden aber in der öffentlichen Wahrnehmung. Dirim & Mecheril (2018, S. 171) sprechen von der »Essentialisierung der Differenz«: Ein Merkmal wird überbetont und die Schlechterstellung im Schulsystem wird mit einer einzelnen Eigenschaft der Schüler*innen erklärt. So hat der Begriff in der Alltagsverwendung häufig eine negative Konnotation. Bei der folgenden Darstellung muss also genau unterschieden werden zwischen der statistisch belegten Schlechterstellung der Schüler*innen mit Migrationshintergrund einerseits und den Ursachen für diese Schlechterstellung andererseits.
Trotz des seit Mitte der 1980er Jahre zu beobachtenden Trends zu höherer Bildungsbeteiligung gehören Schüler*innen mit Migrationshintergrund in Deutschland nach wie vor zu den Bildungsbenachteiligten. Im Bericht der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung (2020) wird festgestellt, dass in Deutschland lebende junge Erwachsene mit »Migrationshintergrund« im Vergleich zu deutschen Jugendlichen über ein niedrigeres Bildungsniveau verfügen. Damit verbunden sind eine Reihe sozialer Folgeprobleme: »Mit 28,6 % ist das Armutsrisiko bei Menschen mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so hoch wie in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (11,8 %)« (Beauftragte, 2020, S. 25). In Bezug auf den Schulbesuch lässt sich die Bildungsbenachteiligung exemplarisch an den Zahlen in Baden-Württemberg zeigen (