Ich erzählte ihm einen Unsinn, von dem ich selbst eine Sekunde vorher noch gar keine Ahnung hatte. Ich weiß gar nicht, woher mir plötzlich dieser seltsame Gedanke kam:
«Sehen Sie, unter allen Stunden der Woche gibt es eine, die einen geheimnisvollen seltsamen Einfluss hat. Das sei die Stunde, in der Christus aus seinem Grabe verschwunden ist, um niederzufahren zur Hölle. Das ist die sechste Abendstunde des letzten Tages der jüdischen Woche. Und das war Freitag zwischen fünf und sechs Uhr. Alle drei Selbstmorde waren da. Mehr kann ich jetzt nicht sagen, Herr Kommissar. Aber verweise ich Sie auf die Offenbarung St. Johannis[13]!«
Der Kommissar bedankte sich und bestellte mich für den Abend wieder. Ich trat pünktlich in sein Bureau. Vor ihm auf dem Tische lag das Neue Testament[14]. Ich hatte in der Zwischenzeit dieselben Studien gemacht wie er. Ich hatte die Offenbarung St. Johannis durchgelesen und nicht eine Silbe davon verstanden. Vielleicht war der Kommissar intelligenter wie ich.
«Ich verstehe Ihren Gedankengang«, sagte er.»Ich bin bereit, auf die Wünsche einzugehen und sie in jeder Weise zu fördern.«
Ich muss anerkennen, dass er mir in der Tat sehr behilflich gewesen ist. Er hat das Arrangement mit der Wirtin getroffen. Während der Dauer meines Aufenthaltes im Hotel habe ich alles frei. Er hat mir einen ausgezeichneten Revolver gegeben und eine Polizeipfeife. Die diensttuenden Schutzleute haben Befehl, durch die kleine Rue Alfred Stevens zu geben und auf ein Zeichen von mir hinaufzukommen.
Und er brachte mir ein Tischtelephon, durch das ich mit dem Polizeirevier in direkter Verbindung war. So kann ich die Hilfe haben. Bei alledem verstehe ich nicht recht, vor was ich Angst haben kann!
Dienstag, 1. März.
Vorgefallen ist nichts, weder gestern noch heute. Frau Dubonnet hat eine neue Gardinenschnur gebracht aus einem anderen Zimmer. Sie benutzt überhaupt jede Gelegenheit, um zu mir zu kommen. Jedesmal bringt sie etwas mit. Sie hat mir noch einmal die Vorkommnisse erzählt, aber ich habe nichts Neues erfahren. Bezüglich der Todesursachen hat sie ihre eigene Meinung.
Der Artist? Sie glaubt, dass es sich um eine unglückliche Liebschaft handelt. Als er im letzten Jahre bei ihr war, war häufig eine junge Dame zu ihm gekommen. Was dem Schweizer Herrn seinen Entschluss eingegeben hat, kann sie nicht sagen. Man kann nicht alles wissen.
Aber der Sergeant hat den Selbstmord nur begangen, um sie zu ärgern.
Ich muss sagen, dass diese Erklärungen der Frau Dubonnet etwas dürftig sind. Sie hat geschwatzt. Immerhin unterbricht sie meine Langeweile.
Donnerstag, 3. März.
Noch immer gar nichts. Der Kommissar klingelt ein paarmal am Tage an. Ich sage ihm, dass es mir ausgezeichnet geht. Offenbar befriedigt ihn diese Auskunft nicht ganz. Ich habe meine medizinischen Bücher herausgenommen und studiere. So hat meine freiwillige Haft doch einen Zweck auf alle Fälle[15].
Freitag, 4. März, 2 Uhr nachmittags.
Ich habe ausgezeichnet zu Mittag gespeist. Die Wirtin hat mir eine halbe Flasche Champagner gebracht. Es war eine richtige Henkermahlzeit[16]. Sie betrachtet mich als schon dreiviertel tot. Ehe sie ging, hat sie mich weinend gebeten mitzukommen. Sie fürchtete wohl, dass ich mich auch noch aufhängen kann, um sie zu ärgern.
Ich habe mir eingehend die neue Gardinenschnur betrachtet. Daran also soll ich mich gleich aufhängen! Hm, ich verspüre wenig Lust dazu. Dabei ist die Schnur rauh und hart und zieht sich sehr schlecht in der Schlinge.
Jetzt sitze ich an meinem Tisch. Links steht das Telefon. Rechts liegt der Revolver. Furcht habe ich gar nicht, aber neugierig bin ich.
6 Uhr abends.
Nichts ist passiert – leider! Die verhängnisvolle Stunde kam und ging. Sie war wie alle anderen. Aber kann ich nicht leugnen, dass ich manchmal einen gewissen Drangs verspürte, zum Fenster zu gehen. O ja, aber aus anderen Gründen[17]! Der Kommissar klingelte zwischen 5 und 6 wenigstens zehnmal an. Er war ebenso ungeduldig wie ich selbst. Aber Frau Dubonnet ist vergnügt. Eine Woche hat jemand auf Nr. 7 gewohnt, ohne sich aufzuhängen. Fabelhaft!
Montag, 7. März.
Ich bin nun überzeugt, dass ich nichts entdecken kann. Ich neige der Ansicht zu, dass es sich bei den Selbstmorden meiner Vorgänger nur um einen seltsamen Zufall gehandelt hat. Ich bin überzeugt, dass man schließlich doch die Gründe finden wird.
Ich werde hier bleiben. Ich lebe umsonst hier und esse ich hier sehr gut auch. Dazu studiere ich tüchtig. Und endlich habe ich noch einen Grund, der mich hier hält.
Mittwoch, 9. März.
Also ich bin einen Schritt weiter gekommen. Clarimonde…
Ach so, ich habe von Clarimonde noch nichts erzählt. Also sie ist – mein dritter Grund, hier zu bleiben. Sie ist es auch, wegen der ich in jener» verhängnisvollen «Stunde gerne zum Fenster gegangen war. Clarimonde – warum nenne ich sie nur so? Ich habe keine Ahnung, wie sie heißt. Aber denke ich, dass ich sie Clarimonde nennen kann. Und ich wette, dass sie sich wirklich so nennt. Irgendwann frage ich sie nach ihrem Namen.
Ich habe Clarimonde gleich in den ersten Tagen bemerkt. Sie wohnt auf der anderen Seite der sehr schmalen Straße. Ihr Fenster liegt dem meinen gerade gegenüber. Da sitzt sie hinter den Vorhängen. Übrigens muss ich feststellen, dass sie mich früher beobachtete, wie ich sie. Sie bewies ein Interesse für mich. Kein Wunder! Die ganze Straße weiß ja, dass ich hier wohne und weshalb. Dafür hat Frau Dubonnet schon gesorgt.
Ich bin wirklich keine sehr verliebte Natur. Meine Beziehungen zur Frau sind immer sehr kärglich gewesen. Ich habe nicht viel Erfahrungen. Vielleicht habe ich diese Sache ziemlich dumm angefangen. Immerhin, mir gefällt sie, so wie sie ist.
Im Anfang ist mir gar nicht der Gedanke gekommen, mein Gegenüber[18] in irgendwelche Beziehungen zu mir zu bringen. Ich habe mir nur gedacht, kann ich geradesogut mein Gegenüber beobachten. Den ganzen Tag lang kann man ja doch nicht über den Büchern sitzen! So habe ich also festgestellt, dass Clarimonde die kleine Etage augenscheinlich allein bewohnt. Sie hat drei Fenster. Aber sitzt sie nur an dem Fenster, das dem meinen gegenüber liegt. Sie sitzt da und spinnt, an einem kleinen altmodischen Rocken. Ich habe so einen Spinnrocken einmal bei meiner Großmutter gesehen. Aber sie hatte ihn auch nie gebraucht. Meine Großmutter hat ihn nur geerbt von irgendeiner Tante. Ich wusste gar nicht, dass man heute noch damit arbeitet. Übrigens ist der Spinnrocken von Clarimonde ein ganz kleines, feines Ding, weiß und scheinbar aus Elfenbein.
Sie sitzt den ganzen Tag hinter den Vorhängen. Sie arbeitet unaufhörlich. Erst wenn es dunkel wird, hört sie auf. Freilich wird es sehr früh dunkel in diesen Nebeltagen in der engen Straße. Um fünf Uhr schon haben wir die schönste Dämmerung. Licht habe ich nie gesehen in ihrem Zimmer.
Wie sie aussieht – Ja, das weiß ich nicht recht. Sie trägt die schwarzen Haare in Wellenlocken[19]. Sie ist ziemlich bleich. Die Nase ist schmal und klein. Die Flügel bewegen sich. Auch ihre Lippen sind bleich. Es scheint mir, als ob die kleinen Zähne zugespitzt wären wie bei Raubtieren. Die Lider schatten tief. Aber wenn sie sie aufschlägt, leuchten ihre großen, dunklen Augen. Doch fühle ich das alles viel mehr, als ich es wirklich weiß. Es ist schwer, etwas genau zu erkennen hinter den Vorhängen.
Noch etwas. Sie trägt stets ein schwarzes geschlossenes Kleid. Große lila Tupfen sind darauf. Und immer hat sie lange schwarze Handschuhe an. Es sieht seltsam aus, wie die schmalen schwarzen Finger, schnell, scheinbar durcheinander, die Fäden nehmen und ziehen. Wirklich, beinahe wie ein Gekrabbele von Insektenbeinen!
Unsere Beziehungen zueinander. Nun, eigentlich sind sie recht oberflächlich. Doch denke ich, als wenn sie viel tiefer sind. Es fing