Der „Konflikt der modernen Kultur“
Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858–1918)31 hat diesen Konflikt, den er den „Konflikt der modernen Kultur“ nennt, bereits 1918 einer eingehenden Analyse unterzogen. Dabei hat er ihn, wie bei [<<74] einem Jünger Nietzsches und Verfechter des Vitalismus nicht anders zu erwarten – und das war Simmel in seinen letzten Jahren – auf einen Konflikt des Lebens zurückgeführt. Leben heißt schöpferisch sein; das Leben kann sich aber nur dadurch in seiner schöpferischen Lebendigkeit bewähren, daß es Formen schafft, Werke, die in eben dem Maße, in dem sie Gestalt annehmen, aufhören lebendig zu sein, die nämlich im Moment der Fertigstellung in eine feste Form auskristallisieren. Damit treten sie dem Leben, das es geschaffen hat, als etwas gegenüber, dem es gerade sein Eigenstes, seine Lebendigkeit, nicht hat mitteilen können, so daß es sie um seiner Selbsterhaltung willen wieder zerbrechen und sich zu neuen Formen aufmachen muß, wohl wissend, daß diese auch nicht lebendiger sein werden als ihre Vorgänger.
Das Problem ist also früh schon gesehen worden; ob aber die Analyse zureicht, die ihm Simmel hat angedeihen lassen, darf wohl bezweifelt werden. Wenn es wirklich auf einen Konflikt des Lebens überhaupt zurückzuführen wäre, dann wäre zu fragen, was an ihm das spezifisch Moderne sein sollte; dann hätte es sich eigentlich zu allen Zeiten zeigen müssen, und wenn das nicht oder nicht in der gleichen Weise wie in der Moderne der Fall gewesen sein sollte, dann müßte hier etwas hinzugetreten sein, das es allererst hätte virulent werden lassen, ein Moment, das nicht im Leben, das überhaupt nicht in den natürlichen Voraussetzungen der kulturellen Entwicklung, sondern in dieser selbst zu suchen wäre. Da wäre dann zunächst und vor allem an die Modernisierungsdynamik zu denken, wie sie alles einmal Geschaffene, alle Formen und Strukturen und alle Traditionen und Konventionen, die diese am Leben erhalten, unter den Generalverdacht des Überlebten stellt, aber auch an einen Lebensbegriff, wie ihn Simmel gebraucht, einen, der sich an die Modernisierungsdynamik angepaßt hat und demgemäß nur den Schaffensprozeß selbst als lebendig anerkennt und alles Geschaffene als tot abqualifiziert.
Das kann man natürlich auch anders sehen, und man kann es durchaus auch als engagierter Moderner. So hat etwa die amerikanische Autorin Gertrude Stein (1874–1946), eine zentrale Figur des Avantgardismus, erklärt: „Life is tradition and human nature“,32 Leben ist [<<75] Tradition und menschliche Natur. Der Satz findet sich bezeichnenderweise in dem Werk, in dem sie die Summe ihrer künstlerischen Erfahrungen zieht, in dem späten experimentellen Text „Paris, France“ (1940). Für Stein gehört das kulturelle Erbe genauso zum Leben wie die Natur. Traditionen und Konventionen ermöglichen Leben, indem sie es auf eine feste Grundlage stellen und ihm mit dem, was sie ihm an Stoffen und Formen zuführen, zu tun geben, und sie stimulieren und befruchten es selbst dort und gerade dort, wo es sich an ihnen reibt; ohne die selbstverständliche Gegenwart des kulturellen Erbes kein schöpferisches Leben, auch nicht in der Moderne.33
Von einer solchen Sicht der Dinge sind die ersten Modernen freilich noch weit entfernt; der Historismus und der epigonale Kunstbetrieb des ausgehenden 19. Jahrhunderts lasten zu schwer auf ihnen, als daß sie dem Phänomen der Traditionsbildung etwas Positives abgewinnen könnten. So entfaltet sich die moderne Kunst und Literatur in einem konfliktgeladenen Wechselspiel zwischen dem Versuch, der Vision einer neuen Kunst mit dem Aufbringen neuer Themen und Formen Leben einzuhauchen, und einem Dogmatismus der Offenheit, der solche „Präzisierung der Moderne“ wegen der Gefahr einer neuerlichen Traditionsbildung mit „Prinzipien“, „Idealen“, „Dogmen“ und „Autoritäten“ sogleich wieder kassiert.
Die Idee einer Postmoderne
Die Möglichkeit der dogmatischen Verfestigung eines bestimmten Begriffs von moderner Kunst ist allerdings erst in dem Moment zu einer realen Gefahr für das Ringen um Offenheit geworden, in dem man begann, von der Moderne als Epoche zu reden. Denn da mußte man dann in der Tat versuchen, ein „Ideal“ moderner Kunst zu konstruieren, nämlich „Prinzipien“ herauszuarbeiten und dogmatisch festzuschreiben, die sie von der Kunst früherer Epochen unterscheiden würden; da wurden allgemeine Aussagen wie die unumgänglich, die moderne Literatur tendiere zu Atheismus und Materialismus, bevorzuge Formen wie Freie Rhythmen, Fragment und Montage, usw. Und wirklich hat man bereits kurz nach der Jahrhundertwende begonnen, von [<<76] den Jahren seit 1885 als einer eigenen, besonderen Epoche zu sprechen. So hat zum Beispiel der Berliner Schriftsteller und Literaturkritiker Samuel Lublinski (1868–1910) schon 1904 eine vielbeachtete „Bilanz der Moderne“ vorgelegt, um ihr 1909 gar eine Schrift folgen zu lassen, der er den Titel „Der Ausgang der Moderne“ gab.
Wo man aber von der Moderne als einer Angelegenheit handelt, die wie einen Beginn, so auch einen „Ausgang“ hätte und von der sich eine „Bilanz“ aufmachen ließe, da ist die Idee einer „Postmoderne“ nicht mehr fern. In der Tat lassen sich die beiden Schriften von Lublinski als ein früher Anlauf zu einer Theorie der Postmoderne begreifen, auch wenn er das Wort „postmodern“ noch nicht kennt und mit seinen Versuchen womöglich nicht besonders weit gekommen ist.
Hier wie überall, wo man sich an einer solchen Theorie versucht, ist die zentrale Frage, was der Gegenwart an Entwicklungen zugesprochen wird, die es erlauben, ihr einen Ort jenseits der Moderne zuzuweisen. Soll es das Abrücken von einem dogmatisch verfestigten, in einem bestimmten Epochenbild festgeschriebenen Begriff von Moderne und die Erneuerung des Dogmatismus der Offenheit sein, oder aber umgekehrt die Abkehr von dem Dogmatismus der Offenheit und Wiedergewinnung eines produktiven Verhältnisses zu den Traditionen von Kunst und Kultur und zu dem Institut der Traditionsbildung überhaupt? Streng genommen, müßte es sich eigentlich um ein Drittes handeln: um die Überwindung des „Konflikts der modernen Kultur“, des zum Automatismus erstarrten Hin und Her zwischen der dogmatischen Verfestigung neuer Formen und ihrer nicht minder dogmatischen Wiederauflösung – wie immer dies im einzelnen zu denken sein mag.
Erneuerung des Avantgardismus
Lublinski tritt für die zweite Option ein; er meint, in der Literatur der Zeitgenossen ein Erlahmen des Pathos der Innovation und eine neue Offenheit für das kulturelle Erbe, auch für das klassische Erbe, wahrnehmen zu können. Doch damit irrte er sich. Denn in dem gleichen Jahr 1909, in dem er seinen „Ausgang der Moderne“ vorlegte, trat F. T. Marinetti in Paris mit dem „Manifest des Futurismus“ an die Öffentlichkeit, das zur Initialzündung für eine ganze Reihe von neuen Avantgarden wurde, und gründete Kurt Hiller (1888–1972) in Berlin den „Neuen Club“, in dem die ersten Expressionisten zusammenfanden. Hier wie dort wurden die Forderungen der ersten Modernen [<<77] nicht einfach nur erneuert, sondern auf eine Weise zugespitzt, die ihnen eine besonders große Durchschlagskraft verschaffte, so daß das kulturelle Leben nun heftiger aufgemischt wurde als je zuvor. Damit hatte sich die Idee der Postmoderne fürs erste erledigt; der Avantgardismus ging in eine neue Runde.
Die Erste Moderne wird zur „klassischen Moderne“
Damit die Vorstellung von einer Postmoderne wirklich Fuß fassen und zu einem Kristallisationspunkt des Nachdenkens über die Moderne werden konnte, mußte die Welt erst sehr viel mehr an Avantgarden erlebt und an moderner Kunst und Literatur gesehen haben und mußte sich deren Wahrnehmung in ganz anderem Maße zum Bild einer Epoche verdichtet haben als zu Zeiten Lublinskis. So dauerte es bis in die sechziger, siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, bis sich ein Postmoderne-Diskurs etablieren