Der Golem / Голем. Густав Майринк. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Густав Майринк
Издательство: Издательство АСТ
Серия: Exklusive Klassik
Жанр произведения:
Год издания: 1914
isbn: 978-5-17-155880-2, 978-5-17-155879-6
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es mir geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte – fast unhörbar. Wie ich eine Sekunde später darüber nachdachte, war alles vorbei; nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und löste sich langsam in ein unbestimmtes Gefühl des Grauens auf.

      Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.

      «Gehen wir; was stehen wir da herum!» mahnte Vrieslander.

      Wir schritten die Häuserreihe entlang.

      Prokop folgte nur widerwillig.

      «Meinen Hals möcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien in Todesangst».

      Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fühlte, daß etwas wie leise dämmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.

      Bald darauf standen wir vor einem rotverhängten Schenkenfenster.

      «SALON LOISITSCHEK».

      «Heinte großes Konzehr» stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.

      Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, öffnete sich die Eingangstür nach innen, und ein vierschrötiger Kerl mit gewichstem schwarzem Haar, ohne Kragen – eine grünseidene Krawatte um den bloßen Hals geschlungen und die Frackweste mit einem Klumpen aus Schweinszähnen geschmückt – empfing uns mit Bücklingen.

      «Jä, jä, das sin mir Gästäh. – Pane Schaffranek, rasch einen Tusch!» setzte er, über die Schulter in das von Menschen überfüllte Lokal gewendet, hastig seinem Willkommensgruß hinzu.

      Ein klimperndes Geräusch, wie wenn eine Ratte über Klaviersaiten liefe, war die Antwort.

      «Jä, jä, das sin mir Gästäh, das sin mir Gästäh. Da schaut man», murmelte der Vierschrötige immerwährend eifrig vor sich hin, während er uns aus den Mänteln half.

      «Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir versammelt», beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch Geländer und eine zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.

      Schwaden beißenden Tabakrauches lagerten über den Tischen, hinter denen die langen Holzbänke an den Wänden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten waren: Dirnen von den Schanzen, ungekämmt, schmutzig, barfuß, die festen Brüste kaum verhüllt von mißfarbigen Umhängetüchern, Zuhälter daneben mit blauen Militärmützen und Zigaretten hinter dem Ohr, Viehhändler mit haarigen Fäusten und schwerfälligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.

      «Ich stell’ ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schön ungestört sein», krächzte die feiste Stimme des Vierschrötigen, und eine Rollwand, beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.

      Schnarrende Klänge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer verlöschen.

      Eine Sekunde eine rhythmische Pause.

      Totenstille, als hielte alles den Atem an.

      Mit erschreckender Deutlichkeit hörte man plötzlich wie die eisernen Gasstäbe fauchend die flachen herzförmigen Flammen aus ihren Mündern in die Luft bliesen – dann fiel die Musik über das Geräusch her und verschlang es.

      Als wären sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.

      Mit langem, wallendem, weißen Prophetenbart, ein schwarzseidenes Käppchen – wie es die alten jüdischen Familienväter tragen – auf dem Kahlkopf, die blinden Augen milchbläulich und gläsern – starr zur Decke gerichtet – saß dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit dürren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm in speckglänzendem, schwarzen Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals und Armen – ein Sinnbild erheuchelter Bürgermoral – ein schwammiges Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem Schoß.

      Ein wildes Gestolper von Klängen drängte sich aus den Instrumenten, dann sank die Melodie ermattet zur bloßen Begleitung herab.

      Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riß den Mund weit auf, daß man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der Brust herauf rang sich ihm, von seltsamen hebräischen Röchellauten begleitet, ein wilder Baß:

      «Roo – n – te, blau – we Stern —»

      «Rititit» (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort die keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)

      «Roonte blaue Steern

      Hörndlach ess i’ ach geern»;

      «Rititit»

      «Rotboart, Grienboart

      allerlaj Stern» —

      «Rititit, rititit».

      Die Paare traten zum Tanze an.

      «Es ist das Lied vom ›chomezigen Borchu‹», erklärte uns lächelnd der Marionettenspieler und schlug leise mit dem Zinnlöffel, der sonderbarerweise mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. «Vor wohl hundert Jahren oder mehr noch hatten zwei Bäckergesellen, Rotbart und Grünbart, am Abend des ›Schabbes Hagodel‹ das Brot – Sterne und Hörnchen – vergiftet, um ein ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber der ›Meschores‹ – der Gemeindediener – war infolge göttlicher Erleuchtung noch rechtzeitig draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei überliefern. Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten damals die ›Landonim‹ und ›Bocherlech‹ jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als Bordellquadrille hören».

      «Rititit – Rititit»

      «Roote blaue Steern —» immer hohler und fanatischer erscholl das Gebell des Greises.

      Plötzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmählich in den Rhythmus des böhmischen «Schlapak» – eines schleifenden Schiebetanzes – über, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinander preßten.

      «So recht. Bravo. Äh da! fang, hep, hep!» rief von der Estrade ein schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem Harfenisten zu, griff in die Westentasche und warf ein Silberstück in der Richtung. Es erreichte sein Ziel nicht: ich sah noch, wie es über das Tanzgewühl hinblitzte; da war es plötzlich verschwunden. Ein Strolch – sein Gesicht kam mir so bekannt vor; ich glaube, es muß derselbe gewesen sein, der neulich bei dem Regenguß neben Charousek gestanden – hatte seine Hand hinter dem Busentuch seiner Tänzerin, wo er sie bisher hartnäckig ruhen gehabt, hervorgezogen – ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne auch nur einen Takt der Musik auszulassen, und die Münze war geschnappt. Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in der Nähe grinsten leise.

      «Wahrscheinlich einer vom ›Bataillon‹, nach der Geschicklichkeit zu schließen», sagte Zwakh lachend.

      «Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom ›Bataillon‹ gehört», fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem Marionettenspieler zu, daß ich es nicht sehen sollte. – Ich verstand gar wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich für krank. Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzählen. Irgend etwas.

      Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiß vom Herzen in die Augen. Wenn er wüßte, wie weh mir sein Mitleid tat!

      Ich überhörte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine Worte einleitete, – ich weiß nur, mir war, als verblute ich langsam. Mir wurde immer kälter und starrer, wie vorhin, als ich als hölzernes Gesicht auf Vrieslanders Schoß gelegen hatte. Dann war ich plötzlich mitten drin in der Erzählung, die mich fremdartig umfing, – einhüllte, wie ein lebloses Stück aus einem Lesebuch.

      Zwakh begann:

      «Die Erzählung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.

      – No,