135
In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall ging es um fehlende Unterlagen, die die Patientenseite nach der Anspruchsablehnung durch den Haftpflichtversicherer bei diesem im November 2007 angefordert hatte. Die Antwort kam auf nochmalige Anforderung im August 2008. Es lag schon deutlich früher nahe zu überlegen, ob man überhaupt noch in Verhandlungen stehe, nachdem auf die Anforderung fehlender Unterlagen eine Antwort ausblieb.
136
Geht es jedoch um die Prüfung des Anspruchsgrundes, werden in der Praxis nicht selten 9 Monate oder mehr Geduld abverlangt. Die Gefahr besteht jedoch, dass die vom Gesetzgeber als ausreichend angesehene, in der Rechtsprechung gefundene flexible Lösung den Realitäten der arzthaftungsrechtlichen Auseinandersetzungen nicht gerecht wird und Richter ohne Erfahrung mit vorgerichtlichen Verhandlungen schematisch von praxisfernen Zeitvorstellungen ausgehen. Man wird im Arzthaftungsbereich auch nicht Zeitvorstellungen, die die Rechtsprechung zu anderen Rechtsgebieten entwickelt hat, übernehmen können.[129] Die Hinweise von Martis/Winkhart auf derartige Entscheidungen sind als Mahnung zur Vorsicht auf Aktivseite sicher nützlich.[130] Es kann entgegen der dort vertretenen Ansicht aber nicht schematisch „regelmäßig nach einmonatiger Untätigkeit“ vom Ende der Verhandlungen ausgegangen werden. Erinnert sei an eine Entscheidung des VI. Zivilsenats vom 1.3.2005[131], in welcher es um einen Fall ging, in welchem der Kläger Schadenersatzansprüche aus fehlerhafter Behandlung geltend gemacht und der Haftpflichtversicherer des Universitätsklinikums eine Prüfung zugesagt hatte mit dem gleichzeitigen Hinweis, dass das Archiv derzeit nicht zugänglich sei, er werde aber unaufgefordert weiter Stellung nehmen. Auf ein Erinnerungsschreiben des anwaltlich vertretenen Kindes 18 Monate nach dieser Prüfungszusage wurden Schadenersatzansprüche abgelehnt. Es sei unter diesen Umständen grundsätzlich Sache des Haftpflichtversicherers, die Initiative wegen einer Wiederaufnahme der Verhandlungen zu ergreifen, wenn er die Hemmung einer Verjährung der Ersatzansprüche beenden wolle. Der Hinweis, man müsse zur weiteren Prüfung des Anspruchs Einsicht in derzeit nicht zugängliche Archivunterlagen nehmen und werde unaufgefordert weiter Stellung nehmen, habe dazu geführt, dass der Berechtigte ohne die Folge eines Abbruchs der Verhandlungen abwarten durfte.
137
Es unterliegt nach der Entscheidung des BGH vom 15.12.2016[132] grundsätzlich tatrichterlichem Ermessen, die Zeitspanne zu bestimmen, innerhalb derer auf die Erklärung eines der Verhandlungsführer eine Antwort des anderen vernünftigerweise zu erwarten war. Der BGH gibt selbst keine festen Fristen für ein Einschlafen der Verhandlungen vor. Der Zeitraum, den man dem einen Teil zur Reaktion auf die Äußerung des anderen Teils einräumen müsse, hänge von dem Gegenstand der Verhandlung und der Verhandlungssituation ab. Gerechnet werden muss auf Aktivseite damit, dass das Ermessen von Tatrichter zu Tatrichter sehr unterschiedlich ausgeübt wird.
138
Es muss aber einen Unterschied machen, ob Verhandlungen über ein vom Anspruchsgrund her relativ überschaubares Unfallgeschehen oder ein i.d.R. komplexes Behandlungsgeschehen geführt werden[133] und in welchem Verhandlungsstadium die Parteien sich befinden. Die von Martis/Winkhart zitierten Entscheidungen[134] betreffen allesamt Verhandlungssituationen, in denen der Anspruchsgrund nicht hochkomplex war und schon ausführlich korrespondiert worden war und in denen sich ein Stocken der Verhandlungen schon beim letzten Gespräch oder Schreiben abgezeichnet hatte. Hier mag eine Frist von einem Monat tatsächlich der Erwartung eines nächsten Verhandlungsschritts entsprechen.
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Die zentrale Frage wird im Einzelfall bleiben, wann der Verpflichtete bzw. dessen Haftpflichtversicherer spätestens eine Reaktion des Berechtigten, also des Patienten oder des Rechtsnachfolgers des Patienten, oder der Berechtigte eine Reaktion des Verpflichteten bzw. seines Haftpflichtversicherers erwarten durfte. Hier kommt es auf tatsächliche Umstände und die Erwartungshaltung im Einzelfall an. Geht es in Arzthaftungssachen um den Anspruchsgrund, benötigt der Haftpflichtversicherer des Arztes i.d.R. ausführliche Stellungnahmen der beteiligten Ärzte und interne oder externe medizinische Beratung, sodass selten eine Positionierung innerhalb von 3 Monaten stattfindet. Wird dann noch ein ärztlicher Berater eingeschaltet, zieht sich die Prüfung oft noch weitere Monate hin.[135]
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Nach einer ablehnenden Stellungnahme mit umfangreichen medizinischen Ausführungen werden weder der Patient noch ein Sachbearbeiter bei einem SVT innerhalb von wenigen Wochen zu diesen Ausführungen Stellung nehmen können, da auch dort medizinische Beratung erforderlich sein wird, die üblicherweise nicht innerhalb von zwei Wochen oder einem Monat zu organisieren ist. Das ist auf Seiten der Haftpflichtversicherer bekannt. Von daher gehört es in Arzthaftungssachen zu der die Erwartungshaltung prägenden Erfahrung, dass die Verhandlungen sich hinziehen und Antworten oft mehrere Monate auf sich warten lassen.
141
Teilt der Haftpflichtversicherer mit, er wolle die Ansprüche prüfen und dazu Informationen seines Versicherungsnehmers oder der an der Behandlung beteiligten Ärzte einholen und er komme unaufgefordert auf die Sache zurück, hat der Berechtigte auch nach mehreren Monaten keinen Grund zu der Annahme, die Verhandlungen würden nicht fortgesetzt werden. Der Berechtigte muss dann darauf vertrauen dürfen, dass der Haftpflichtversicherer wie angekündigt „unaufgefordert auf die Sache zurückkommt.“[136] Wenn sodann der Haftpflichtversicherer sich mit der Prüfung mehrere Monate Zeit nimmt und eine ausführliche, auch medizinisch begründete Stellungnahme abgibt, wäre es widersprüchlich, der Patientenseite oder auch der Regresssachbearbeitung einer Krankenkasse vorzuhalten, eine Reaktion könne innerhalb von z.B. einem Monat spätestens erwartet werden.
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Dennoch sollte das Thema Einschlafenlassen mit Vorsicht angegangen werden. Dabei ließe sich in der Praxis die Erwartungshaltung des Gegners beeinflussen. Will der Patient zur ablehnenden Haltung des Haftpflichtversicherers medizinische Beratung in Anspruch nehmen, wäre es möglich, dem Haftpflichtversicherer dies mitzuteilen, und auch, dass dies nach vorläufiger Einschätzung X Monate dauern werde. Dann wäre es Sache des Haftpflichtversicherers, die Verhandlungen vorher abzubrechen, falls dieser die erbetene Geduld nicht aufbringen wollte. Umgekehrt empfiehlt es sich nach der Entscheidung des BGH vom 8.11.2016[137], ein Abwarten auf eine Stellungnahme des Haftpflichtversicherers mit Nachfragen zu verbinden, ob man dort noch prüfe bzw. in eine weitere Prüfung eingetreten sei.
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Einen Sonderfall des Einschlafens bei Nichtreaktion des Verpflichteten stellt die Fristsetzung durch den Berechtigten dar, die ohne Reaktion des Verpflichteten bleibt. Wird der Berechtigte nach Fristablauf nicht aktiv, sieht der BGH[138] hier ein Ende der Verjährungshemmung spätestens einen Monat nach Ablauf der von dem Berechtigten gesetzten Frist. Das dürfte jedoch nicht anzunehmen sein, wenn der Verpflichtete auf die Fristsetzung mit dem Hinweis reagiert, dass die Prüfung noch nicht abgeschlossen sei, und nochmals um Geduld bittet.
II. Verjährungshemmung während eines Verfahrens vor einer von den Ärztekammern eingerichteten Schlichtungs- bzw. Gutachterstelle nach § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB
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Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 17.1.2017[139] eine Verjährungshemmung nach § 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB angenommen, wenn der Patient gegen den behandelnden Arzt Schadensersatzansprüche bei einer von den Ärztekammern eingerichteten Schlichtungsstelle oder Gutachterstelle geltend macht, und zwar unabhängig davon, ob der Arzt oder der hinter diesem stehende Haftpflichtversicherer sich auf das Schlichtungsverfahren einlässt. Dies gelte auch, wenn ein Schlichtungsverfahren nach der Verfahrensordnung der jeweiligen Schlichtungsstelle nur dann durchgeführt wird, wenn Arzt und Haftpflichtversicherer der Durchführung des Verfahrens zustimmen.
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In Rechtsprechung und Literatur wurde bislang die Verjährungshemmung nur bei erklärtem Einvernehmen angenommen. Deutsch/Spickhoff haben z.B. vertreten, dass der Schlichtungsantrag des Geschädigten nur zu einer Hemmung der Verjährung