Vom Normalfall zum Störfall: das Kaufrecht beginnt nicht mit der problemträchtigen Gewährleistung, sondern mit den Ansprüchen auf Vertragserfüllung, die den Kauf zu dem machen, was er ist. Ebenso rangiert im Allgemeinen Schuldrecht die Erfüllung vor der Leistungsstörung und im Allgemeinen Teil das „gesunde“ Rechtsgeschäft vor dem „kranken“.
Der Normalfall bestimmt das juristische Denken, denn jeder Störfall ist eine Abweichung von der gesetzlichen Normalität, die möglichst wiederherzustellen ist.
Von der Regel zur Ausnahme heißt hier: von der Anspruchsgrundlage zur Gegennorm oder vom Anspruch zur Einwendung. Anspruchsgrundlage ist jede vertragliche oder gesetzliche Norm, die einen Anspruch begründet. Während ihr Tatbestand die normalen Anspruchsvoraussetzungen beschreibt, handeln die Gegennormen von anomalen Hindernissen, die den Anspruch ausnahmsweise nicht entstehen lassen, ihn auslöschen oder hemmen. Das juristische Denken in den Kategorien von Regeln, Ausnahmen und Gegenausnahmen macht das Recht überhaupt erst praktikabel.
Von der Rechtsfolge zum Tatbestand: jede vollständige Rechtsnorm, ob Anspruchsgrundlage oder Gegennorm, besteht aus Tatbestand und Rechtsfolge. Rechtsfolge ist ein Anspruch oder eine Einwendung, der Tatbestand die Summe der Anspruchs- oder Einwendungsvoraussetzungen. Der Tatbestand interessiert nur, wenn die Rechtsfolge zur Falllösung passt. Der einzelne Anspruch aber wird durch seinen Gegenstand bestimmt. Deshalb ordnet der Praktiker die Rechtsnormen nach ihren Rechtsfolgen, nicht nach ihren Tatbeständen.
Das Buch folgt der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, was gelegentliche Kritik nicht ausschließt, verzichtet dagegen wie schon der „Zivilprozess“ auf Literaturzitate. Rechtsprechung und Rechtswissenschaft stehen nicht mehr auf gleicher Stufe. Anders als im 18. und 19. Jahrhundert gibt nicht mehr die Lehre, sondern die Rechtsprechung den Ton an. Das Recht gilt heute so, wie der Bundesgerichtshof es auslegt und anwendet. Und die Praxis hält sich daran. Ein origineller Instanzrichter, der ohne Not von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht, treibt den Verlierer ins Rechtsmittel und den Sieger in die Kosten. Der Anwalt macht sich gar schadensersatzpflichtig, wenn er an der Rechtsprechung vorbei prozessiert, und es hilft ihm gar nichts, wenn er die komplette Lehre auf seiner Seite hat. Wenn aber der Anwalt vertraglich verpflichtet ist, sich an die höchstrichterliche Rechtsprechung zu halten (BGH NJW 93, 3323 und ständig), kann es nicht falsch sein, den jungen Juristen zuallererst diese Rechtsprechung zu vermitteln, schließlich werden die meisten von ihnen einmal Anwalt werden.
Da systematisches Verständnis schwerer wiegt als Detailwissen, habe ich viel Sorgfalt auf durchsichtige Stoffgliederung und klare Sprache verwendet. Bei allem Respekt vor dem BGH habe ich mich nicht gescheut, die juristischen Zauberformeln, die oft mehr verdunkeln als erhellen, aufzulösen und ins gemeine Deutsch zu übersetzen. Es steht nirgends geschrieben, der Jurist solle sich kompliziert oder gar unverständlich ausdrücken. Der beschreibende Text wird durch zahllose Beispiele aufgelockert, die das abstrakte Gesetz mit der bunten Vielfalt des Lebens konfrontieren und zeigen, wie schwierig es oft ist, beides durch rechtliche Subsumtion in Einklang zu bringen.
Konstanz, im September 1994 Kurt Schellhammer
Inhaltsübersicht
Einleitung Zivilrecht und Bürgerliches Gesetzbuch, Anspruch und Beweislast
1. Buch Schuldrecht Besonderer Teil oder: Vom Kauf bis zur unerlaubten Handlung
8. Teil Auftrag, Geschäftsbesorgungsvertrag und Zahlungsdienste
9. Teil Der Verwahrungsvertrag
10. Teil Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts
12. Teil Die juristischen Personen des BGB: der Verein und die Stiftung