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Der Wiederaufnahmeantrag durchläuft ein mehrstufiges Verfahren. Das nach den §§ 367 Abs. 1 Satz 1 StPO, 140a GVG zuständige Wiederaufnahmegericht entscheidet zunächst über die Zulassung des Wiederaufnahmeantrags (sog. Aditionsverfahren). Der Antrag wird als unzulässig verworfen, wenn er nicht in der vorgeschriebenen Form angebracht, in ihm kein gesetzlicher Grund der Wiederaufnahme geltend gemacht oder kein geeignetes Beweismittel angeführt worden ist, § 368 Abs. 1 StPO. Nach der Zulassung des Antrags werden die angetretenen Beweise erhoben, § 369 StPO; anschließend befindet das Gericht über die Begründetheit des Antrags (sog. Probationsverfahren). Wenn die in dem Antrag aufgestellten Behauptungen durch die Beweisaufnahme genügend bestätigt worden sind, wird die Wiederaufnahme des Verfahrens und – in der Regel[6] – die Erneuerung der Hauptverhandlung angeordnet. Die neue Hauptverhandlung richtet sich wie die erste Hauptverhandlung nach den §§ 226 ff. StPO. Nach § 373 StPO gelten allerdings besondere Regeln für die Tenorierung und, was bedeutsamer ist, das Verbot der reformatio in peius.
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Die Struktur des Wiederaufnahmeverfahrens unterscheidet sich grundlegend von derjenigen des Erkenntnisverfahrens.[7] Das Erkenntnisverfahren ist inquisitorisch strukturiert, die Verfahrensherrschaft liegt beim Gericht. Dementsprechend obliegt ihm auch die Stoffsammlung. Für Darlegungslasten anderer Verfahrensbeteiligter, namentlich des Angeklagten, bleibt kein Raum. Mit dem rechtskräftigen Abschluss des Erkenntnisverfahrens geht ein Strukturwandel einher. Ein anschließendes Wiederaufnahmeverfahren ist ähnlich akkusatorisch strukturiert wie der Zivilprozess. Das Gericht hat keine verfahrensbeherrschende Position inne. Die maßgebenden verfahrensgestaltenden Befugnisse besitzt der Antragsteller. Dementsprechend verschieben sich auch die Verantwortungsbereiche hinsichtlich der Stoffsammlung. Den Antragsteller treffen umfassende Darlegungs- und Beweisführungslasten. Andererseits ist das Wiederaufnahmegericht ähnlich wie ein Zivilgericht gemäß § 139 ZPO in besonderem Maße zur Hilfeleistung gegenüber dem Antragsteller verpflichtet, so dass es ihn insbesondere erforderlichenfalls auf das Ausmaß seiner Darlegungs- und Beweisführungsobliegenheiten hinzuweisen hat.
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Der Strukturwandel erklärt sich daraus, dass der Gesetzgeber mit Eintritt der Rechtskraft die öffentlichen Rechtsschutzinteressen hinsichtlich der Sache selbst als erledigt ansieht. Er geht davon aus, dass der öffentliche Rechtsfrieden durch den rechtskräftigen Urteilsspruch in jedem Fall wiederhergestellt worden ist und dass allenfalls noch der persönliche Rechtsfrieden privater Verfahrensbeteiligter, die ihre privaten Rechtsschutzinteressen durch das Urteil nicht verwirklicht sehen, gestört sein kann. Das öffentliche Rechtsschutzinteresse ist nunmehr auf Aufrechterhaltung des Urteils gerichtet. Seine Richtigkeit wird vermutet. Dementsprechend betrachtet der Staat das weitere Geltendmachen privater Rechtsschutzinteressen, namentlich die Rehabilitierung des Verurteilten, der sich zu Unrecht verurteilt fühlt, als Privatangelegenheit. Wie zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche stellt er lediglich Rechtspflegeorgane zur Verfügung, bei denen private Rechtsschutzinteressen in einem rechtlich geordneten Verfahren geltend gemacht werden können. Zum Gegenstand öffentlichen Interesses wird das weitere Aufbegehren privater Verfahrensbeteiligter erst, wenn es ihnen gelingt, die Vermutung für die Richtigkeit der Feststellungen, die das rechtskräftige Urteil in sich trägt, zu erschüttern. Da sich in diesem Fall der öffentliche Rechtsfrieden als nur scheinbar wiederhergestellt erweist, nimmt nunmehr der Staat die Sache wieder in die eigenen Hände.[8]
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Den strukturellen Besonderheiten des Wiederaufnahmeverfahrens wird es nicht gerecht, die spezifischen Darlegungs- und Beweisführungslasten, die den Antragsteller treffen, lediglich als „gesteigerte Auswirkungen der Akkusationsmaxime“ anzusehen.[9] Die dafür vorgetragenen Argumente[10] sind nicht stichhaltig. Insbesondere steht die in § 244 Abs. 2 StPO normierte Amtsaufklärungspflicht dem hier skizzierten Strukturwandel nicht entgegen. Der Hinweis darauf, dass „die Handhabung aller Verfahrensvorschriften … unter dem beherrschenden Grundsatz des § 244 Abs. 2 StPO“ stehe, versperrt den Blick auf die strukturellen Unterschiede zwischen dem erstinstanzlichen und dem wiederaufgenommenen Verfahren auf der einen Seite sowie dem Aditions- und Probationsverfahren auf der anderen Seite, wie sie sich aus den betreffenden Verfahrensvorschriften ergeben.[11] Sie lassen eine derart deutliche Abkehr von dem das Erkenntnisverfahren prägenden Untersuchungsgrundsatz erkennen, dass es sachwidrig wäre, insoweit gleichermaßen von einem inquisitorisch strukturierten Verfahren zu sprechen. Dem hier angenommenen Strukturwandel steht auch nicht entgegen, dass erhöhte Darlegungsanforderungen anderen speziellen Bereichen des Strafverfahrens, etwa dem Wiedereinsetzungs-, dem Revisions- und dem Klageerzwingungsverfahren, ebenfalls nicht fremd sind. Die Besonderheiten dieser Verfahrensstadien belegen vielmehr, dass verschiedene Konstellationen des Strafverfahrens durchaus mehr oder weniger stark von akkusatorischen Strukturelementen geprägt sind, so dass der für das Wiederaufnahmeverfahren festzustellende Strukturbruch dem Strafprozessrecht keineswegs wesensfremd sein muss.[12] Schließlich spricht auch der Umstand, dass das Gesetz überhaupt eine Wiederaufnahmemöglichkeit vorsieht, nicht gegen die hier vertretene Auffassung. Die akkusatorische Struktur des Wiederaufnahmeverfahrens bestätigt nur, dass das Wiederaufnahmebegehren lediglich als Ausdruck privaten Rechtsschutzinteresses angesehen wird, solange nicht die Erneuerung der Hauptverhandlung angeordnet worden ist.
Anmerkungen
Vgl. zu entsprechenden Reformforderungen namentlich: Denkschrift des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, S. 74 ff.; Dippel GA 1972, 97, 119 ff.; Deml S. 21 ff.; Rieß NStZ 1994, 153 ff. Ein von der SPD-Fraktion während der 13. Legislaturperiode in den Bundestag eingebrachter Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Wiederaufnahmerechts vom 29.1.1996 (BT-Drucks. 13/3594) sah u.a. eine Ausweitung der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten auf offensichtliche Rechtsfehler und die Einführung des Wesentlichkeitsprinzips bei der Strafmaß-Wiederaufnahme vor (dazu näher unten Rn. 93). Nach der Beratung im Rechtsausschuss (vgl. BT-Drucks. 13/10333) wurde allerdings lediglich der neue Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 6 StPO (Wiederaufnahme bei festgestellter Verletzung der Menschenrechtskonvention) eingeführt (dazu näher unten Rn. 276 ff.). Die übrigen Änderungsvorschläge wurden seitens der SPD-Fraktion zurückgezogen und nicht im Einzelnen beraten. Zur Diskussion um den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion vgl. van Essen Kriminalistik 1996, 762 ff.; Wasserburg ZRP 1997, 412 ff.; Stoffers ZRP 1998, 173 ff.
Vgl. etwa Schünemann ZStW 84 (1972), 870, 888; Peters FS Dünnebier, S. 53, 71 ff.; Schöneborn MDR 1975, 441; Wasserburg StV 1992, 104; Stern NStZ 1993, 409 ff.; Strate StV 1999, 228 ff.; Bock/Eschelbach/Geipel/Hettinger/Röschke/Wille GA 2013, 328 ff.; KMR-Eschelbach, vor § 359 Rn. 5.
Z.B. Weihrauch/Bosbach Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Rn. 91 ff.; Klemke/Elbs Einführung