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Auch wenn ein Ausgleich zwischen den Prinzipien der Unterordnung und der Unabhängigkeit nicht ausgeschlossen ist, gibt es doch verschiedene Ansätze, diese Prinzipien in Frage zu stellen. So wird das Prinzip der Unterordnung praktisch beschränkt durch die Einmischung von Verwaltungsangehörigen in die Politik (starke Repräsentation in Parlament und Regierung, Präsenz in den Ministerialkabinetten), durch die zunehmende Ausweitung administrativer Rechtsetzungsbefugnisse und durch die Entwicklung unabhängiger Verwaltungsbehörden, die gerade darauf zielen, sich dem Zugriff der gewählten Organe zu entziehen.[21] Die Politisierung des höheren öffentlichen Dienstes und die Entwicklung eines französischen Systems der Ämterpatronage tragen zusätzlich zur Relativierung des Prinzips der Unabhängigkeit bei. Vor diesem Hintergrund und infolge ihrer Aufgaben, die sie innerhalb des rechtlich definierten Rahmens erfüllen muss, ist die öffentliche Verwaltung keineswegs souverän.
2. Die Ausprägungen
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Von seinem Gegenstand her betrachtet ist das Verwaltungsrecht das auf die öffentliche Verwaltung anwendbare Recht. Der Begriff des „service public“ ist das grundlegende Kriterium zur Bestimmung seines Anwendungsbereichs. Bereits sehr früh ist in diesem Begriff zugleich die Grundlage und die Grenze des Verwaltungsrechts gesehen worden. Er steht im Zentrum der theoretischen Werke zweier großer Juristen: Maurice Hauriou[22] und Léon Duguit[23]. Für Hauriou, der die Vorrechte der Verwaltung in den Mittelpunkt seiner Konstruktion rückt, steht der Begriff des „service public“ für die „objektive Selbstbeschränkung“ der öffentlichen Gewalt. Duguit sieht in ihm das Herzstück des Verwaltungsrechts: Aufgabe der Verwaltung sei es, das allgemeine Interesse zu befriedigen. Das Verwaltungsrecht wird auch über seinen Inhalt definiert, als eine Summe von rechtlichen Vorschriften. Folglich ist das Verwaltungsrecht entweder das Recht der Verwaltung, mithin die Summe der rechtlichen Vorschriften, die den organisatorischen Rahmen und das Handeln der öffentlichen Verwaltung bestimmen und die Erfüllung der Verwaltungsfunktionen ermöglichen, oder man sieht in ihm im Unterschied zum Privatrecht, das von den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit angewandt wird, die besonderen Vorschriften, die von den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit angewandt werden. Diese Vorschriften stellen ein autonomes Gebilde dar und begründen das Verwaltungsrecht im engeren Sinne. Als Herzstück der Beziehung zwischen Recht und Verwaltung hat das Verwaltungsrecht die Aufgabe, zwischen den Erfordernissen des durch das allgemeine Interesse gerechtfertigten Verwaltungshandelns und der Notwendigkeit seiner Beschränkung im Interesse des Schutzes der administrés zu vermitteln. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die im Zentrum dieses Konflikts steht, trägt zur Entstehung des Verwaltungsrechts bei. Folge ist ein in besonderer Weise dem Verwaltungsrechtsstreit verbundener Ansatz (approche contentieuse). Sowohl bei der Gewährleistung des Verwaltungshandelns als auch bei seiner Beschränkung tragen die veränderten Bedingungen der Ausübung öffentlicher Gewalt einerseits und die stetige Anpassung der Verwaltungsgerichtsbarkeit andererseits zur Bewahrung der traditionellen Prinzipien bei. Insofern muss sich „alles ändern, damit es so bleiben kann, wie es ist“.[24]
a) Die Verbindung von allgemeinem Interesse und Schutz der administrés
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Als Instrument des Verwaltungshandelns geschaffen, durchläuft das Verwaltungsrecht eine Entwicklung, in der es auch zu einem Instrument der Bindung der Verwaltung an das Recht wird.
aa) Öffentliche Gewalt, Gesetzmäßigkeits- und Verantwortlichkeitsprinzip
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Das Verwaltungsrecht verleiht den Verwaltungsbehörden wichtige Befugnisse (la puissance publique), die es ihnen ermöglichen, das allgemeine Interesse zu befriedigen (le service public). Aus diesem Grund scheint es einer richterlichen Wendung nach „vernünftiger- und gerechterweise unmöglich, den Staat mit einem einfachen Individuum gleichzusetzen“.[25]
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Das Verwaltungsrecht ist für den Betrachter ein Recht der Ungleichheit und der Vorrechte. Die Verwaltung verfügt über Immunitäten, die sie vor bestimmten Angriffen schützen. So unterliegt die Verwaltung nicht der Kontrolle der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Auch ist die Zwangsvollstreckung gegen juristische Personen des öffentlichen Rechts ausgeschlossen. Überdies und vor allem genießt die öffentliche Verwaltung Vorrechte. Bei diesen handelt es sich um Mittel, die ihr an die Hand gegeben sind, um das allgemeine Interesse zu befriedigen, darunter die Befugnis zu einseitigem Handeln (pouvoir d’action unilatérale), Befugnisse im Zusammenhang mit dem Vollzug von Verwaltungsverträgen und die Befugnis zur Verwaltungsvollstreckung (pouvoir d’exécution forcée). Immunitäten und Privilegien sind es, die für die Verwaltungsgewalt charakteristisch sind und sie von Einzelnen unterscheiden. Diese Gewalt, die als solche gerichtlich nicht angreifbar ist, muss relativiert werden aufgrund der Entwicklung von Verfahren und Techniken, die dem Konsensprinzip, das eigentlich für privatrechtliche Beziehungen charakteristisch ist, nahestehen. Jedenfalls führt die Stellung der Verwaltung nicht dazu, dass sie dem Recht entzogen ist: Die Befugnisse werden vielmehr im Rahmen der Rechtsnormen ausgeübt, die die Freiheitsrechte vor der Willkür der Verwaltung schützen.
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Das Verwaltungshandeln ist tatsächlich ständig von gerichtlicher Kontrolle „bedroht“. Diese ist jederzeit möglich, weil jeder Betroffene Maßnahmen, die die Befugnisse einer Behörde überschreiten, gerichtlicher Kontrolle unterwerfen kann. Die Verwaltung ist zudem verpflichtet, unter bestimmten Voraussetzungen tätig zu werden, wenn dies für die Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlich ist; auf der Grundlage des Gesetzmäßigkeitsprinzips (principe de légalité ou juridicité) muss sie dabei entsprechend den unterschiedlichen Bestimmungen der Rechtsordnung handeln und den Schutz der rechtlich eingeräumten Grundrechte gewährleisten. Wenn ein Regelverstoß zu einer Sanktion führt, ist der durch die Verwaltung verursachte Schaden zu ersetzen. Die Entwicklung des Gesetzmäßigkeitsprinzips geht einher mit der zunehmenden Anerkennung des Grundsatzes der Staatshaftung. Heute ist davon auszugehen, dass die Verantwortlichkeit der öffentlichen Gewalt umfassend ist: Jede juristische Person des öffentlichen Rechts ist für jede ihrer Tätigkeiten verantwortlich. Dennoch gilt das Prinzip der Verantwortlichkeit der öffentlichen Gewalt nicht absolut. Es bedarf vielmehr eines Ausgleichs zwischen den unterschiedlichen Anforderungen an das Verwaltungshandeln – darunter die Verpflichtung auf das allgemeine Interesse, das Grundlage des Verwaltungshandelns ist. Aus diesem Grund enthalten die einzelnen Rechtsregime meist komplexe Regelungen über das Verhältnis zwischen der Verwaltung, den Beamten und den Betroffenen.[26]
bb) Erneuerung der Bedingungen der Ausübung öffentlicher Gewalt
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Drei Entwicklungslinien prägen die Erneuerung, die die Traditionen mit den aktuellen demokratischen, steuerungstechnischen und politischen Anforderungen verbindet: Territorialisierung (territorialisation), Regulierung (régulation) und vertragliche Kooperation (contractualisation).
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