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Doch nicht nur der Gesetzgeber hat zur Veränderung des Strafverfahrens beigetragen. Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in den ersten 10 Jahren des neuen Jahrtausends hat den Strafprozess in einer Weise geprägt und neu akzentuiert, die den Interessen einer effektiven Verteidigung massiv zuwider läuft. So ist die in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 27.2.1992[11] begründete Widerspruchslösung ständig ausgeweitet worden (hierzu Rn. 410 ff.). Heute genügt der einfache Widerspruch nicht mehr; er ist vielmehr zu konkretisieren und substantiiert zu begründen.[12] Die dadurch gesteigerte Verantwortung erfordert vom Verteidiger nicht nur gute Kenntnis der Rechtsprechung, sondern auch stete Aufmerksamkeit und Durchsetzungswillen gegenüber dem Instanzgericht, um sich die Rügemöglichkeiten der Revision zu erhalten. Mit der Entscheidung des Großen Senats vom 23.4.2007 zur sogenannten Rügeverkümmerung[13] wurde zudem die Jahrzehnte lang geltende höchstrichterliche Rechtsprechung aufgegeben, wonach durch eine Protokollberichtigung einer bereits in zulässiger Weise erhobenen Verfahrensrüge nicht der Boden entzogen werden durfte.[14] Diese Entscheidung, die unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zum lückenhaften Protokoll[15] nicht völlig überraschend kam, hat in der Literatur zu heftigen Diskussionen geführt.[16] Für die Verteidigung in der Hauptverhandlung ist das Problem insoweit relevant, als der Verteidiger von einer negativen Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls i.S.d. § 274[17] in Zukunft nicht mehr ausgehen kann. Über diesen Einzelfall hinaus hat er zu gewärtigen, dass die bisher in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch weitgehend respektierte Formenstrenge der StPO erheblich an Wert eingebüßt hat.
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Bereits in die Vorauflage wurde die Darstellung der Hauptverhandlung im Berufungsverfahren (Rn. 737 ff.) aufgenommen, wobei der Schwerpunkt auf den taktischen Überlegungen des Verteidigers bei der Durchführung der Berufung liegt. Der umfassenden Neuregelung des § 329 im Jahr 2015 war in der Neuauflage Rechnung zu tragen.
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Soweit sich die nachfolgenden Ausführungen auf die Hauptverhandlung erster Instanz beziehen, so ist zunächst das Verfahren bei der Großen Strafkammer gemeint. Sie haben jedoch – soweit sich nicht aus der Sache selbst etwas anderes ergibt – ebenso Geltung für das Verfahren beim Strafrichter und beim Schöffengericht. Durch die Möglichkeit der Sprungrevision gegen amtsgerichtliche Urteile gilt dies auch für revisionsrechtlich relevante Fragen.
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Dem Ziel eines Praxisratgebers entsprechend liegt der Schwerpunkt der darstellenden Teile auf der Rechtsprechung, insbesondere der des Bundesgerichtshofs und der Obergerichte. Rechtswissenschaftliche Auseinandersetzungen und abweichende Ansichten sollen nur dort in den Vordergrund treten, wo sich entweder noch keine herrschende Meinung in der Praxis gebildet hat, oder ein Anliegen engagierter Strafverteidigung gerade darin liegen muss, einer verteidigungsfeindlichen Rechtsprechung entgegen zu treten.
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Eine letzte Anmerkung noch: An verschiedenen Stellen habe ich bei der 5. Auflage den ehemaligen Berliner Strafkammervorsitzenden F.-K. Föhrig zu Wort kommen lassen. Dass dies nicht früher geschah, liegt daran, dass ich sein im Jahr 2008 erschienenes „Kleines Strafrichterbrevier“[18] trotz der prominenten Herausgeberschaft zunächst als Satire,[19] später dann als die Geschichte eines lebenslangen Leidens an der falschen Berufswahl missverstanden hatte,[20] und erst nach einigen Gesprächen mit erfahrenen Berufsrichtern und Berufsrichterinnen, als zwar launigen, aber ernstgemeinten Ratgeber für seine an der strafrichterlichen Praxis ebenfalls leidenden Berufskollegen verstanden habe. Nachdem ich nun der Überzeugung bin, dass „der Föhrig“ nicht nur ernst genommen werden wollte, sondern auch ernst genommen wird, scheint der eine oder andere Hinweis auf seine hemdsärmeligen Äußerungen, insbesondere seine Bewertung der Rechte des Beschuldigten,[21] der Aufgabe der Verteidigung und seine Vorschläge zu deren Bekämpfung, doch angebracht.
Anmerkungen
Auch heute immer noch lesenswert hierzu Schumacher StV 1995, 442.
Zu diesen gehören zumindest NStZ, NStZ-RR, StV, StraFo und die Online-Zeitschrift HRRS, die den Vorteil hat, kostenlos im Internet bezogen werden zu können, sowie die erklärtermaßen praxisorientierte StRR (ab 2007); für Spezialgebiete stehen wistra und Kriminalistik, für strafrechtstheoretische Auseinandersetzungen insbesondere GA und ZStW zur Verfügung. Eine vollständige Aufzählung ist an dieser Stelle nicht möglich.
Siehe www.bundesgerichtshof.de.
Schünemann StV 1993, 657.
Dahs NJW 1994, 909.
BGHSt 50, 40, 64.
BGBl. I, 2353.
Vgl. zum Ganzen die monographische Darstellung von Niemöller/Schlothauer/Weider.
Niemöller/Schlothauer/Weider Vorwort, S. V.
Hierzu ausführlich Malek StV 2010, 200 ff.
BGHSt 38, 240.
BGHSt 52, 38, 42.
BGHSt 51, 298.
Vgl. BGHSt 34, 11, 12; st. Rspr.
Etwa BGH NJW 2001, 3794.
Zustimmend etwa Fahl JR 2007, 340.